LWF aktuell 154
Genetische Struktur der Gams im bayerischen Alpenraum
von Susanne Jacobs, Hendrik Edelhoff, Cornelia Ebert und Wibke Peters

Vierzehn Gämse im Rudel beim Grasen auf der BergwieseZoombild vorhanden

Abb. 1: Gämsen sind als charakteristische Bergbewohner im bayerischen Alpenraum weit verbreitet (© H. Neuner, BaySF)

Wie hoch ist die genetische Vielfalt der bayerischen Gämsen und unterscheidet sie sich regional? Wie gut sind die Gamsvorkommen der bayerischen Alpen vernetzt?

Das wildbiologische Team der Bayerischen Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft ging diesen Fragen in einem Forschungsprojekt mit populationsgenetischen Untersuchungen auf den Grund. Über 2.800 Proben aus dem gesamten bayerischen Alpenraum lieferten höchst interessante Erkenntnisse zur Populationsstruktur und zum Zustand der Gamsvorkommen.

Als charakteristische Bergbewohner besiedeln Gämsen auch im bayerischen Alpenraum eine Vielzahl von Lebensräumen – von Felsregionen und alpinen Matten bis zum Bergwald. Die bayerischen Alpen weisen dabei überwiegend eine hohe Naturnähe auf. Dennoch sind auch die Wildtiere der alpinen Regionen, wie die Gams, verschiedensten anthropogenen Einflüssen ausgesetzt: Der Klimawandel, die zunehmende touristische Nutzung des Alpenraums sowie die Land- und Forstwirtschaft oder die Jagd beeinflussen ihre Lebensräume. Über die Auswirkungen dieser Faktoren auf die Populationsgenetik der bayerischen Gamsvorkommen lagen bisher kaum Daten vor.

Eine fundierte Datengrundlage zum Zustand der Populationen ist für das Management und den Schutz von Arten von entscheidender Bedeutung. Die Bayerische Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft (LWF) führt seit mehreren Jahren verschiedene Projekte zur Gams im bayerischen Alpenraum durch. Im Fokus standen bisher zwei Untersuchungsgebiete im Chiemgau und im Karwendel, in denen die LWF beispielsweise die Populationsgrößen mittels genetischer Methoden aus Losungsfunden ermittelte oder das Raum-Zeit-Verhalten der Gämsen mit Telemetrie untersuchte (LWF aktuell 2/2021).

Genetische Analysen von 2.873 bayerischen Gämsen

Flüchtende Gams über GesteinZoombild vorhanden

Abb. 2: Kleinere Talräume, Flüsse oder Straßen stellen für Gämsen nur geringe Ausbreitungshindernisse im Sinne populationsgenetischer Strukturen dar (© H.-J. Fünfstück, www.5erls-naturfotos.de)

Für die genetischen Analysen entnahmen Jagdausübende Gewebeproben von erlegten Tieren – vereinzelt auch von Fallwild – aus dem gesamten bayerischen Alpenraum und angrenzenden Gebieten in Österreich. Für jede Probe wurde die genaue Verortung erhoben, da nur dies eine Auswertung räumlicher Populationsstrukturen und eine Verschneidung mit Landschaftsdaten ermöglicht. Außerdem lieferten die Erleger mit Angaben zu Alter, Geschlecht, Gewicht und zur Länge des Jährlingsschlauchs – des oberen Teils des Horns der Gämsen, der nach dem ersten Lebensjahr unverändert bleibt – weitere wichtige Informationen zur Kondition und Konstitution der Tiere.

Aus den Gewebeproben wurde im Labor zunächst DNA extrahiert. Für die genetische Untersuchung wurden sogenannte Mikrosatelliten-Marker verwendet, also kurze, besonders variable DNA-Abschnitte. Aus 16 dieser Mikrosatelliten-Marker entstand für jedes Individuum ein eigenes genetisches Profil. Insgesamt wurden für 2.873 Gämsen solche genetischen Profile erhoben. Mit dieser umfangreichen Stichprobengröße lassen sich fundierte Aussagen über die Populationsstruktur der Gams, aber auch zur genetischen Diversität und zum genetischen Austausch zwischen verschiedenen Regionen im bayerischen Alpenraum treffen.

Analyse von genetischen Populationsstrukturen

Im ersten Auswertungsschritt stand die Frage der Populationsstruktur im Mittelpunkt: Gibt es so etwas wie »DIE bayerische Gams«? oder lassen sich die bayerischen Gamsvorkommen in mehrere Populationen einteilen, die beim Monitoring und Management gezielt berücksichtigt werden sollten?

In der Regel entstehen abgegrenzte Populationen dann, wenn der genetische Austausch (Genfluss) zwischen Individuen verringert ist. Der Genfluss wird einerseits durch die Landschaft, andererseits durch die Ausbreitungsfähigkeit der Arten beeinflusst. Für Unterbrechungen des Genflusses sind häufig Barrieren zwischen Habitaten ursächlich – beispielsweise Flüsse oder Täler, aber auch an­thropogene Strukturen wie Straßen oder Siedlungen. Je länger die Trennung besteht und je stärker diese ausgeprägt ist, desto stärker unterscheiden sich die Populationen genetisch voneinander. Bestehen keine Barrieren zwischen geeigneten Habitaten, sind genetische Unterschiede zwischen Individuen meist auf die geographische Distanz zurückzuführen – denn die Entfernung zwischen zwei Individuen bestimmt, wie wahrscheinlich diese als Paarungspartner in Frage kommen.

Mit Hilfe der genetischen Informationen lässt sich untersuchen, wie ähnlich sich die erfassten Individuen sind: Je näher die Tiere miteinander verwandt sind, desto mehr Marker stimmen in ihren Aus­prägungen überein. Hieraus können sowohl nahe Verwandtschaftsverhältnisse als auch großräumige Populationsstrukturen ermittelt werden. Ob und wie sich die Gamsvorkommen in Bayern in mehrere Populationen oder Untereinheiten einteilen lassen, wurde anhand sogenannter Zuweisungstests untersucht. Diese Tests schätzen mittels Bayesscher Statistik die wahrscheinlichste Anzahl an Gruppen (sogenannte »Cluster«), in die sich die Individuen auf Basis der Gendaten aufgliedern lassen. Dabei werden möglichst homogene Gruppen mit genetisch ähnlichen Individuen gebildet. Für die bayerischen Gamsvorkommen wurden zwei für die Populationsabgrenzung gängige Programme (STRUCTURE und Geneland) verwendet, die sich hinsichtlich ihres methodischen Ansatzes unterscheiden (Pritchard et al. 2000, Guillot et al. 2005). Die gefundenen Cluster wurden anhand der Verortung der einzelnen Proben auf eine Karte projiziert, um die räumliche Verteilung der ermittelten Gruppen darzustellen. Für diese Gruppen wurde zusätzlich die Differenzierung berechnet, also die Stärke der genetischen Unterschiede zwischen den verschiedenen genetischen Gruppen.

Die Gams in Bayern – über weite Strecken gut vernetzt

Karte des Bayerischen Alpenraumes mit fünf verschiedenenfarbigen Gamspopulationen Zoombild vorhanden

Abb. 3: Genetische Populationsstruktur der Gämsen im bayerischen Alpenraum. In der Darstellung sind die beprobten Naturräume/ Naturraumeinheiten den jeweiligen genetischen Populationen zugeordnet. Die Gamsvorkommen lassen sich im Wesentlichen in eine Population westlich und eine östlich des Inns – hier als blaue Linie dargestellt - unterteilen. Innerhalb dieser Populationen konnten Subpopulationen abgegrenzt werden, die jedoch weniger stark voneinander abgetrennt waren (© LWF)

Die Analyse der Populationsstruktur ergab eine deutliche Trennung der Gamsvorkommen westlich und östlich des Inntals (Abbildung 3) – offensichtlich stellt das Inntal eine für die Gams nur schwer überwindbare Barriere dar, wofür mehrere Faktoren maßgeblich sein können: der breite Inn, die überwiegend gezäunte Autobahn 93, die Bahntrasse und die Siedlungsbereiche im Inntal. Die beiden ermittelten Gamspopulationen sind zwar klar genetisch unterscheidbar, aber noch nicht zu stark differenziert – sie sind sich also genetisch immer noch ähnlich. Bemerkenswert ist, dass Individuen, die genetisch eindeutig der Population westlich des Inntals zuzuordnen waren, auch östlich des Inns erlegt wurden. Dies deutet darauf hin, dass vereinzelt abwandernde Individuen das Inntal durchqueren oder es zumindest in angrenzenden österreichischen Gebieten zur Vermischung der Vorkommen kommt. Innerhalb der zwei großen Cluster waren die genetischen Strukturen weniger ausgeprägt und die Populationsstruktur war eher durch die geographische Distanz bestimmt und nicht durch Barrieren.

Die Beobachtung, dass größere Talräume eine deutliche, jedoch nicht unüberwindbare Barriere für die Gämsen darstellen, deckt sich auch mit den Ergebnissen einer aktuellen Studie über die postglaziale Verbreitung der Gams im gesamten Alpenraum (Leugger et al. 2022). Kleinere Talräume, Flüsse oder Straßen stellen für Gämsen somit nur geringe Ausbreitungshindernisse im Sinne populationsgene­tischer Strukturen dar. Auch vertiefende landschaftsgenetische Analysen, die den populationsgenetischen Daten Landschaftsdaten gegenüberstellen, konnten für weite Teile des bayerischen Alpenraums eine gute Konnektivität, also gute Voraussetzungen für genetischen Austausch, zeigen. Für die bayerischen Gamsvorkommen ein gutes Zeichen: regelmäßiger genetischer Austausch ist ein wichtiger Faktor für den Erhalt der genetischen Vielfalt.

Genetische Vielfalt der bayerischen Gamsvorkommen

Balkendiagramm welches die Genetische Diversität von Gamspopulationen vergleicht.Zoombild vorhanden

Abb. 4: Vergleich der genetischen Diversität in den abgegrenzten bayerischen Subpopulationen anhand der Heterozygotie; im alpenraumweiten Vergleich liegen die Werte der bayerischen Vorkommen im mittleren bis hohen Bereich (© LWF)

Eine zentrale Fragestellung des Projekts war der genetische Zustand der bayerischen Gamspopulationen: Wie hoch ist die genetische Vielfalt der Gämsen in Bayern, gibt es Unterschiede zwischen den Regionen? Zur Beantwortung dieser Frage wurden für die abgegrenzten Subpopulationen verschiedene Parameter berechnet, die die genetische Vielfalt abbilden. Einer dieser Parameter ist der Heterozygotiegrad: dieser kann Werte zwischen 0 und 1 annehmen und gibt den Anteil an Individuen an, die für ein Merkmal mischerbig sind. Mischerbige Individuen haben an einem untersuchten Genort zwei unterschiedliche Ausprägungen eines Merkmals, sie haben also von ihren Elternteilen unterschiedliche Varianten geerbt. Gemittelt über eine Population oder Subpopulation gibt der Heterozygotiegrad Auskunft über die genetische Diversität dieser Einheiten. Für die Gämsen im bayerischen Alpenraum lag die Heterozygotie im Vergleich mit anderen Studien aus dem Alpenraum im mittleren bis hohen Bereich, zwischen den einzelnen Subpopulationen gab es aber geringfügige Unterschiede (Abbildung 4). Detaillierte Analysen zum Einfluss der Landschaft auf die genetische Diversität zeigten, dass die kleinräumige genetische Vielfalt zum Rand der Gamsvorkommen und mit abnehmenden Anteilen an für die Gams geeigneten Höhenlagen zurückgeht. Dies kann darauf zurückzuführen sein, dass in Randlagen sowohl die Populationsdichte als auch die Möglichkeiten für genetischen Austausch geringer sind. Insgesamt wurde für die bayerischen Gamsvorkommen aber ein guter genetischer Zustand mit hoher genetischer Diversität und guter Konnektivität zwischen verschiedenen Gebirgsregionen nachgewiesen.

Populationsgenetik – wichtige Methode im Artenschutz
Die genetische Vielfalt ist ein integraler Bestandteil der Biodiversität – neben der Vielfalt der Arten und der Lebensräume (Vereinte Nationen 1992). Sie ist ein wichtiger Kennwert für den naturschutzfachlichen Zustand einer Art oder Population. Die Populationsgenetik hat sich in den vergangenen Jahrzehnten als wichtige Disziplin in der Forschung, aber auch im Monitoring und Management vieler Arten etabliert. Kleine und isolierte Populationen haben meist eine geringere genetische Vielfalt als große, gut vernetzte Populationen. Langfristig erhöht eine größere genetische Vielfalt die Anpassungsfähigkeit an Veränderungen des Lebensraums. Je mehr genetische Varianten in einer Population vorhanden sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass zufällig Merkmale vorkommen, die sich für die veränderten Bedingungen als besonders vorteilhaft erweisen.

Ein zentraler Aspekt der Populationsgenetik ist die Analyse von Populationsstrukturen und Konnektivität von Populationen. Für Monitoring und Management sind diese Parameter von großer Bedeutung, denn sie geben Aufschluss darüber, welche Vorkommen genetisch zusammengehörig sind. Auch Rückschlüsse zum Grad der Vernetzung verschiedener Populationen lassen sich daraus ableiten. So können z. B. Bereiche ermittelt werden, in denen eine Vernetzung gefördert werden sollte.

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