Andreas Rimböck, Quirin Stimm und Franz Grüsser
Integrale Wildbachentwicklungskonzepte – Oberammergau, ein Musterbeispiel? – LWF Wissen 82
Wildbachverbauung in Bayern
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Abb. 1: Historische Sperrenstaffel am Wustbach (Foto: Wasserwirtschaftsamt Kempten)
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde mit Verbauungstätigkeiten in Bayerns Wildbächen begonnen. Im Laufe der Zeit sind weitere Ausbau- und Sanierungsmaßnahmen durchgeführt worden. Begründet war dies unter anderem in der damaligen Strategie der Wildbachverbauung. So stand in früherer Zeit hauptsächlich die reine Gefahrenabwehr im Vordergrund, allerdings hier schon immer in enger (integraler) Kooperation zwischen Wasserwirtschaft und Forstverwaltung.
Heute hat sich dieser Strategiegedanke zur Risikokultur bis hin zum Risikomanagement weiterentwickelt, bei dem der Fokus auf den technischen Schutz durch eine integrale Herangehensweise erweitert wurde. Essenziell ist dabei der Umgang mit dem Restrisiko, da eine vollständige Sicherheit vor Naturgefahren nicht erreicht werden kann. Dies soll im Zuge einer Risikokommunikation der Bevölkerung bewusst gemacht werden.
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Abb. 2: Beispiel für die Siedlungsentwicklung und Wiederbewaldung am Kaltenbach in Unterwössen (Grafik: LWF)
Heute beläuft sich der Bestand an Schutzbauwerken in Wildbächen auf über 50.000, wovon 15.000 Wildbachsperren sind. Viele dieser Bauwerke sind sanierungsbedürftig oder entsprechen nicht mehr dem heutigen Stand der Technik. Zu berücksichtigen ist dabei, dass in der Vergangenheit die Bauwerke unter anderen Rahmenbedingungen errichtet wurden, als sie heute vorzufinden sind.
Beispielsweise kam es einerseits durch Ausdehnung der Siedlungsräume und damit auch Vordringen in durch Naturgefahren gefährdete Bereiche zu einem steigenden Schutzbedarf. Andererseits gab es auch ausgedehnte flächenhafte Wiederbewaldungen in Wildbacheinzugsgebieten, die zu einer verstärkten Speicherung von Niederschlägen führen und dadurch die Abflusseigenschaften deutlich positiv beeinflussen (Abbildung 2). Ebenso sorgt ein intakter Bergmischwald für Erosionsschutz und die Stabilisierung von Seitenhängen.
Nicht nur vergangene, sondern auch zukünftige Entwicklungen und Veränderungen machen deutlich, dass zum Schutz vor Wildbachgefahren flexible und anpassungsfähige Konzepte nötig sind, die den künftigen Herausforderungen wie Klimawandel sowie Landnutzungsänderungen gerecht werden. Dabei müssen auch die begrenzten Ressourcen in Zusammenhang mit dem Unterhaltungs-, Sanierungs- und Ausbaubedarf berücksichtigt werden.
Auch aufgrund der verschiedenen Fachrichtungen wie beispielsweise Forstwirtschaft, Geologie und Bauingenieurwesen, die in der Wildbachthematik involviert sind, müssen integrale Ansätze weiterentwickelt, ausgeweitet und besser implementiert werden. Aus diesem Anlass wurde am Bayerischen Landesamt für Umwelt (LfU) das Projekt »Integrale Wildbachentwicklungskonzepte« entworfen, um die zukünftige Ausbau- und Instandhaltungsplanung auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu optimieren.
Integrale Wildbachentwicklungskonzepte (IWEK)
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Abb. 3: Betrachtungsrahmen und Kernelemente integraler Wildbachentwicklungskonzepten (Datenquelle: StMUV 2015)
Ausgebaute Wildbäche obliegen in der Unterhaltung dem Freistaat Bayern und verursachen entsprechende Kosten bei der Instandhaltung der Bauwerke. Das vom Bayerischen Staatsministerium für Umwelt (StMUV) initiierte und am LfU durchgeführte IWEK-Projekt soll dabei aufzeigen, wie mit den Wildbächen auch aus wirtschaftlicher Sicht in Zukunft umgegangen werden soll.
Ein integrales Wildbachentwicklungskonzept basiert auf dem integralen Risikomanagement und sieht dabei eine langfristige Schutz- und Maßnahmenplanung in Verbindung mit einer gesamtheitlichen (integralen) Betrachtung des Wildbacheinzugsgebietes vor (Abbildung 3). Diese Betrachtungsweise zielt darauf ab, das Wildbacheinzugsgebiet als System zu sehen und nicht als einzelne Komponente, die auf einen reinen Wildbachausbau reduziert ist.
Grundlegend ist dabei ein Abgleich dreier Systeme: Das Natursystem, das Schutzsystem und das Gesellschaftssystem. Dieses systemische Arbeiten beinhaltet auch das Wahrnehmen und Einbinden von Beteiligten. Durch Berücksichtigung vergangener, aktueller und zukünftiger Entwicklungen soll das komplette Schutzsystem überprüft und auf künftige Anforderungen ausgerichtet werden.
Ziel des IWEK ist es, das System möglichst flexibel und anpassungsfähig zu gestalten. Dabei kann in einem Abgleich von Kenntnissen über einstige Schutzziele mit zukünftigen Entwicklungen eine vernünftige Beurteilungsgrundlage für das Gesamtkonzept generiert werden. Durch das erhaltene Systemverständnis können somit Defizite erkannt und der Handlungsbedarf abgeschätzt werden.
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Abb. 4: (fiktives) IWEK: Wildbacheinzugsgebiet mit möglichen Maßnahmenoptionen (Grafik: LWF)
Aus dem Handlungsbedarf wird in weiteren Schritten ein Maßnahmenkonzept abgeleitet, das die bisherigen und zukünftigen Entwicklungen berücksichtigt. Das Gesamtkonzept soll dann die Basis für alle künftigen Ausbau- und Unterhaltungsmaßnahmen im Wildbacheinzugsgebiet bilden.
Abbildung 4 zeigt ein (fiktives) Beispiel für mögliche Maßnahmenvarianten. Haben sich Rahmenbedingungen zugunsten einer Gefahrenreduktion entwickelt, so können bestimmte Bauwerke entbehrlich geworden sein, möglicherweise aber auch erst in Verbindung mit künftigen Ersatzmaßnahmen entbehrlich werden.
Beispiel: »Pilotstudie Oberammergau«
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Abb. 5: Auswirkungen der verschiedenen Waldentwicklungsszenarien auf Abfluss (Q) (Grafik: LWF)
In einem ersten Projektschritt wurden innerhalb der Wasserwirtschaftsverwaltung die wesentlichen Fragestellungen gesammelt und Ziele formuliert, die mit einem IWEK erreicht werden sollen. Auf dieser Basis sollten mögliche Ansätze zur Beantwortung der Fragen und dem Erreichen der Ziele in der Praxis erarbeitet bzw. getestet werden. Dazu wurden sogenannte Pilotstudien an vier verschiedene Ingenieurbüros vergeben, die in Zusammenarbeit mit dem LfU und dem örtlich jeweils zuständigen Wasserwirtschaftsamt für ein Wildbacheinzugsgebiet ein integrales Entwicklungskonzept erstellt haben.
Eine dieser Pilotstudien wurde durch das Südtiroler Büro Patscheider & Partner für die »Große Laine« in Oberammergau erarbeitet. Ausschlaggebend für die Wahl des Einzugsgebiets waren ein deutliches Schutzdefizit im Siedlungsbereich, eine große Anzahl älterer Schutzbauwerke im Wildbach und die kurz zuvor gestartete Bergwaldoffensive (BWO) im selben Gebiet.
Die Pilotstudie beinhaltet eine Gefahrenanalyse und eine Risikobewertung, auf deren Basis das Risikomanagement ausgerichtet ist. Besonders hervorzuheben ist am Beispiel der Großen Laine die BWO, welche dort 2009 ihren Startschuss fand. Die Gebiete zur Umsetzung einer BWO werden durch das Amt für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (AELF) festgelegt. Bei der Auswahl sind die Gefährdungslage (z. B. Wildbacheinzugsgebiete), der Waldzustand und gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu berücksichtigen.
In Oberammergau haben sich die Waldeigentümer (Privatwaldgemeinschaft) im Zuge der BWO zum Ziel gesetzt, die Naturverjüngung sowie Mischbaumarten zu fördern und die Bestände zu stabilisieren. Zur Umsetzung wurden Jagdreviere, Wald- und Weideflächen neu geordnet, Weiserzäune zur Erfolgskontrolle errichtet und die Erschließung im Gebiet verbessert. Generell sieht die BWO vor, kostenintensive Sanierungsmaßnahmen durch vorzeitiges Handeln (Vorbeugen) zu vermeiden (AELF Weilheim 2016:2).
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Abb. 6: Auswirkungen der verschiedenen Waldentwicklungsszenarien auf Schwemmholz (V wood) (Grafik: LWF)
Anlass für die Gründung der BWO war die besondere Entwicklung der Waldnutzung im Einzugsgebiet. Um die Jahrhundertwende (18./19. Jahrhundert) wurden die Wälder und Almweiden vom Kloster Ettal den Nutzungsberechtigten übergeben. Aufgrund der schlechten Erschließung wurde bis circa 1980 überwiegend im Kahlschlag gewirtschaftet. Nach einer drei- bis fünfjährigen Beweidung durch Kühe wurden die Freiflächen wieder mit Fichten bepflanzt. Die reinen Fichtenbestände ließen keine natürlichen Bergmischwälder aufkommen.
Die einstig starke landwirtschaftliche Nutzung in Form der Almbeweidung mit einer Bestoßung (Stoß ist eine Vieheinheit des Viehbesatzes in den Alpen) durch circa 300 Rinder wurde heute auf ein Maß von circa 100 Rindern reduziert. Zugleich gewann der Bergwald durch die Ausdehnung des Siedlungsraumes immer mehr an Bedeutung als Schutzwald. Dieser Wandel bot interessante Anhaltspunkte für die integrale Herangehensweise und Ausrichtung der Pilotstudie.
Etwa 80 % der Waldflächen sind Fichtenreinbestände. Der Zustand des Waldes wurde durch das AELF Weilheim dabei als sehr unbefriedigend bewertet. Die Bestände sind generell stark überaltert und die natürliche Verjüngung von Mischbaumarten steht im Konflikt mit der Schalenwildpopulation (AELF Weilheim 2016:5).
Im Einzugsgebiet der Großen Laine ist aus geologischer Sicht vor allem der in der Flyschzone liegende nördliche Teil als labil einzustufen, wodurch dem Wald dort eine wichtige Schutzfunktion zukommt. In Steilhängen und vor allem in Bereichen von Gräben ist der Wald gemäß Bayerischem Waldgesetz (BayWaldG Art. 10 Abs. 1) als Schutzwald ausgewiesen (AELF Weilheim 2016:5).
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Abb. 7: Auswirkungen der verschiedenen Waldentwicklungsszenarien auf Geschiebe (V s) (Grafik: LWF)
In der genannten Pilotstudie spielt anhand der BWO die Entwicklung der Waldnutzung und des Waldzustandes eine bedeutende Rolle. In Absprache mit dem AELF Weilheim erstellte das Ingenieurbüro zwei konträre hypothetische Waldentwicklungsszenarien, um einen Anhaltspunkt über die Bedeutung des Waldzustandes in Zusammenhang mit Naturgefahren zu erhalten. Hierfür wurden ein Optimal- und ein Kalamitätsszenario entwickelt.
Beim Optimalszenario wird von einem gestuften Bergmischwald mit 50 % Fichte, 15 % Tanne, 35 % Buche und sonstige Laubhölzer ausgegangen. Aufgrund des guten Zustands wird eine erhöhte Oberflächenrauigkeit, Interzeption und Infiltration angenommen. In diesem Zusammenhang wurden die Abflussbeiwerte entsprechend modifiziert und in die Modellrechnungen integriert. Abbildungen 5, 6 und 7 zeigt die Ergebnisse der Modellierungen. Die angenommenen Eigenschaften im Optimalszenario führen dazu, dass am Geschieberückhaltebecken (GRB) der Abfluss gegenüber dem aktuellen Zustand um 20 %, die Schwemmholzmengen um 30 % und die Geschiebemengen um 10 % reduziert werden.
Gegenteiliger Fall trifft auf das Kalamitätsszenario zu, bei dem von einem Sturmereignis und anschließendem Borkenkäferbefall ausgegangen wird. Der missliche Waldzustand fördert hier die Erhöhung der Schwemmholz- und Geschiebemengen und trägt zu einem erhöhten Abfluss bei. Zu beachten ist hier, dass für die Szenarien die Waldzustände flächendeckend im gesamten Einzugsgebiet betrachtet wurden. Es darf deshalb nicht davon ausgegangen werden, dass einige Hektar intakter Wald derartig positive Auswirkungen hervorrufen. Außerdem ist zu beachten, dass es sich bei den Ergebnissen der Szenarien um Modellrechnungen handelt und die Ergebnisse eine Tendenz und Größenordnung aufzeigen, aber sicher keinen exakten Wert darstellen.
Fazit
Das Beispiel Oberammergau zeigt, wie sich die Zielsetzungen zweier Partner optimal zum Wohle aller in der Gemeinde ergänzen können. Die Wasserwirtschaft hat hier eine umfassende Verbesserung des Hochwasserschutzes für Oberammergau mit gleichzeitiger Optimierung der bestehenden Wildbachverbauung über den neuen Weg eines integralen Wildbachentwicklungskonzeptes in Angriff genommen. Dabei konnte auch die große Bedeutung eines intakten Waldes durch die Pilotstudie anhand der Modellierung eines Optimal- und eines Kalamitätsszenario eindrucksvoll belegt werden.
Die gleichzeitigen Bemühungen der Bergwaldoffensive um eine Verbesserung des Waldzustandes und um stabilere Bestände – auch im Hinblick auf den Klimawandel – ergänzen die Ansprüche auf einen nachhaltigeren und besseren Hochwasserschutz in idealer Weise. Die Maßnahmen der Bergwaldoffensive werden im gesamten Projektgebiet unter Einbindung aller Beteiligten (Privatwaldgemeinschaft, Jagdgenossenschaft, usw.) konzeptioniert und umgesetzt.
Es bleibt zu wünschen, dass dieses sehr gute Beispiel einer intensivierten Zusammenarbeit zwischen Wasserwirtschafts- und Forstverwaltung an vielen Stellen Nachahmer findet. Denn auf diese Weise entstehen stabile und nachhaltige Lösungen, und ein wirkungsvoller und langfristiger Schutz vor Naturgefahren wird möglich.
Zusammenfassung
In Bayern haben die Menschen bereits vor mehr als 100 Jahren begonnen Wildbäche auszubauen, um sich vor deren Gefahren zu schützen. Eine Vielzahl der über 50.000 Schutzbauwerke in den Wildbächen Bayerns ist mittlerweile sanierungsbedürftig. Entsprechend hoch ist der finanzielle Aufwand für Unterhalt und Instandsetzung. Schutzbauwerke wurden in früherer Zeit unter deutlich anderen Rahmenbedingungen erbaut als heutzutage. Manch ehemalige Almflächen sind heute beispielsweise mit Wäldern bestockt, wodurch sich das Abflussgeschehen und die Erosionsanfälligkeit verändern.
Im Umgang mit Wildbächen muss daher kritisch hinterfragt werden, ob alte Bauwerke den heutigen Bedingungen im Einzugsgebiet und den Schutzzielen gerecht werden. Künftige Entwicklungen, wie Klimawandel, (weiterer) technischer Fortschritt und Änderung der Landnutzung, sind ebenfalls entsprechend zu berücksichtigen. Zielvorstellungen und der Weg dorthin sollen in »Integralen Wildbachentwicklungskonzepten« (IWEK) erarbeitet werden:
Auf Basis einer ganzheitlichen Betrachtung der Wildbacheinzugsgebiete in ihrem historischen und zukünftigen Kontext sollen anpassungsfähige Schutzsysteme entwickelt werden. Ein solches IWEK wurde in Oberammergau für das Einzugsgebiet der »Großen Laine« erstellt und durch die dortige Bergwaldoffensive (BWO) in idealer Weise ergänzt. Durch eine detaillierte Betrachtung der Waldentwicklung erkannte man die verschiedenen Auswirkungen des Waldzustands auf Wildbachprozesse, sodass Maßnahmen zur Verbesserung der Schutzwaldfunktion umgesetzt wurden.
Literatur
- AELF Weilheim (2016): Exkursionsführer Gemeinschaftsreise Forstreferendare 14.09.2016 im Bergwaldoffensive Projektgebiet Laber – Aufacker, Gemeinde Oberammergau. Unveröffentlichter Bericht, Weilheim.
- Bayerisches Staatsministerium für Umwelt und Verbraucherschutz (2015): Wildbachbericht Bayern Teil 1: Grundlagen, Gefahren, Herausforderungen; Eigenverlag; www.bestellen. bayern.de/shoplink/stmuv_wasser_005.htm
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Weiterführende Informationen
Autoren
- Andreas Rimböck
- Quirin Stimm
- Franz Grüsser