Wibke Peters und Hendrik Edelhoff
Die Wege der Gams – LWF aktuell 129
Erste Eindrücke aus der GPS-Telemetriestudie im Karwendel
Das detaillierte Raum-Zeit-Verhalten des Gamswildes im Jahres- und Tagesverlauf wurde im bayerischen Alpenraum bislang noch nicht untersucht. Neben der Kenntnis, wie viele Wildtiere überhaupt in einem Gebiet vorkommen und wie sie auf der Fläche verteilt sind, ist die Lebensraumnutzung jedoch eine der Kernfragen der Tierökologie und des Wildtiermanagements. Ein Forschungsprojekt soll nun das Raum-Zeit-Verhalten der Gams in Abhängigkeit bestimmter Faktoren erfassen und neue Erkenntnisse zur Bewegungsökologie dieses charismatischen Alpenbewohners liefern.
»Habitat« – der Lebensraum einer Tierart. Der Begriff stammt von dem lateinischen Verb habitare, was im Deutschen »wohnen« bedeutet. Aber wo »wohnt« denn nun also die Gams? Diese Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten. Die Habitatnutzung kann zwischen den Tages- und Jahreszeiten, Altersgruppen, Geschlechtern oder auch einzelnen Individuen stark variieren.
Erkenntnisse zur Lebensraumnutzung und den Präferenzen der Gams sind nicht nur aus ökologischer Sicht interessant, sondern sie können auch eine wichtige Grundlage für das Schalenwildmanagement bilden. Zum Beispiel, wenn es um Fragen zum Einfluss menschlicher Landnutzung auf den ›Wohnraum‹ der Gams, die Erlebbarkeit der Wildtiere für Erholungssuchende oder auch um Bejagungsstrategien geht.
Da gerade das Gamswild häufig im Fokus der öffentlichen Diskussionen steht, wurde 2018 das LWF-Projekt »Integrales Schalenwildmanagement im Bergwald« um den Zusatzbaustein »Raum-Zeit-Verhalten und Lebensraumnutzung der Gams« erweitert. Als Untersuchungsgebiet wurde hierfür das Gebiet zwischen Vorderriß und Soiernspitze im Karwendel gewählt, welches auch schon im Rahmen des Hauptprojekts intensiv untersucht wird.
Unterschiede in der Lebensraumnutzung feststellen und verstehen
Abb. 1: Der besenderte Gamsbock »Karl«. Er »sammelt« seit Juni 2020 Daten für die Studie. (Foto: W. Peters)
Im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Erhebung stehen ebensolche Fragen zu den saisonalen Präferenzen und dem Einfluss von zeitlich variierenden Faktoren wie Witterung, Vegetation, Jagd oder Tourismus. So ist die Gams zum Beispiel einer Vielzahl direkter und indirekter Einflüsse ausgesetzt, die auf eine zunehmende Präsenz von Menschen in den Bergregionen zurückzuführen sind. Nicht jede touristische, sportliche oder jagdliche Nutzung bedeutet dabei automatisch eine Störung, aber Veränderungen des Raum-Zeit-Verhaltens als Reaktionen auf menschliche Aktivitäten sind dennoch nicht selten. Geschlechtsspezifische Unterschiede hinsichtlich der Bewegungen und Lebensraumnutzung sollen bei den Auswertungen ebenfalls näher beleuchtet werden.
Detaillierte Einblicke in die Bewegungen der Tiere
Abb. 2: Netzfalle zum Gamsfang: Manuell ausgelöst, ziehen Gewichte die Netze vom Boden aus in Sekundenschnelle nach oben. (Foto: W. Peters)
Für solche Untersuchungen ist in der Wildtierforschung derzeit die Satellitentelemetrie dabei das Mittel der Wahl. Diese ermöglicht es beispielsweise, auch für heimliche Arten detaillierte geografische Positionsdaten zu sammeln (Cagnacci et al. 2010). Solche Daten erlauben Einblicke in ›die Welt‹ eines besenderten Tieres, welche zum Verstehen von Prozessen wie Wahrnehmung und Erinnerungsvermögen genutzt werden können (Mueller & Fagan 2008). Somit bieten Daten mit hoher Auflösung die Schnittstelle zwischen verhaltensbiologischen Prozessen von Individuen, der Ökologie von Populationen und Managementmaßnahmen.
Der in den GPS-Halsbändern eingebaute Aktivitätssensor misst mit Hilfe der Impulszählung (Pedometer) kontinuierlich die Bewegung des Tieres. Nachdem der Sensor auch zwischen erhobenem und gesenktem Haupt unterscheiden kann, ist es zum Beispiel auch möglich zu ntersuchen, ob ein Tier besonders wachsam ist oder nicht.
Erste Gämsen am Sender
Im Takt von zwei Stunden übermitteln die Halsbänder die genauen Koordinaten des aktuellen Standorts der besenderten Gams. Im Laufe eines Jahres können so über 4.000 Relokalisierungen pro Individuum gesammelt werden. Das Senderhalsband tragen die Tiere für circa ein Jahr, bis es sich nach der vorgesehenen Laufzeit mit Hilfe eines sogenannten ›Drop-offs‹ selbstständig ablöst. Somit ist eine schonende und stressfreie Entfernung des GPS-Senderhalsbands gewährleistet.
Variabilität in der saisonalen Raumnutzung
Abb. 3: Sommer- (Juni bis August 2019) und Winterstreifgebiete (Januar bis März 2020; 95 % KDE Methode) von vier telemetrierten Gämsen (1 Bock und 3 Geißen) und die jeweiligen GPS-Telemetriedaten im Karwendel. (Grafik: LWF)
Beispielhaft sind in Abbildung 3 die Sommer- und Winterstreifgebiete eines Gamsbocks und dreier Gamsgeißen dargestellt, welche 2019 gefangen wurden. Basierend auf einer Kerndichteschätzung (»Kernel Density Estimation«; Cumming & Cornélis 2012) wurde zwar im Sommerquartal (Juni bis August 2019) eine durchschnittliche Streifgebietsgröße von 133 ha errechnet, allerdings bewegte sich dabei eine Gams in einem Areal von gerade einmal 24 ha, während ein anderes Individuum im gleichen Zeitraum 313 ha durchstreifte. Tendenziell zeigten sich solche Unterschiede auch im Winterquartal (Januar bis März 2020), in denen die Streifgebiete der vier Tiere zwischen 26 und 185 Hektar lagen (Schnitt 115 ha).
Im Sommer nutzten die vier besenderten Gämsen im Karwendel erwartungsgemäß höhere Lagen (Mittelwert = 1.802 m) als im Winter (Mittelwert = 1.597 m). Im Mittel befanden sich die besenderten Gämsen im Winter in etwas steileren Hängen (Mittelwert = 39,31°) als im Sommer (Mittelwert = 34,14°). Dabei wurden zu beiden Jahreszeiten tendenziell eher nördliche Expositionen genutzt.
Abb. 4: Eingangsdaten für die multivariate Kompositionsanalyse. (Grafik: LWF)
Zum Beispiel wanderte der im Sommer sehr standortstreue Gamsbock »Max« im Winter über 3 km Luftlinie (unter Berücksichtigung des Geländes ist die Laufstrecke deutlich weiter) in ein separates Winterstreifgebiet (Abbildung 3). Die beiden Gamsgeißen »Sissi« und »Franziska« bewohnten dagegen weniger saisonal differenzierte Einstände. Sie unternahmen im Sommer kürzere Ausflüge. Die Gamsgeiß »Sonja« hingegen hatte kleine und klar voneinander getrennte saisonale Streifgebiete.
Die unterschiedliche Größe der saisonalen Streifgebiete lässt sich durch die Ressourcenverfügbarkeit und die individuellen Bedürfnisse hinsichtlich der Territorialität oder Jungenaufzucht des Einzeltiers relativ gut erklären. Durch die Variabilität seiner Bewegungsmuster und seiner Raumnutzung kann sich das Gamswild gut an saisonale Veränderungen in seinem Lebensraum anpassen.
Wo »taugt« es der Gams?
- Wald (sowohl Bergmischwald als auch Nadelholz-dominierte Wälder)
- alpine Gras- und Almflächen
- vegetationsarme Felsregionen
- Latschenfelder
Abb. 5: Kompositionsanalyse der Sommerstreifgebiete. (Grafik: LWF)
Die Ergebnisse zeigen, dass Waldgebiete weniger häufig aufgesucht wurden, als es aufgrund des Waldflächenanteils zu erwarten gewesen wäre (Abbildung 5). Latschenfelder und Felsregionen wurden dagegen bevorzugt genutzt. Gras- und Almflächen wurden entsprechend ihrer Verfügbarkeit im Gebiet gewählt, im Karwendel konnte also weder eine Präferenz noch eine Meidung solcher Flächen festgestellt werden. Zusammengefasst wird deutlich, dass die Sommerstreifgebiete der telemetrierten Gämsen vorrangig durch typische alpine Lebensraumtypen charakterisiert sind und die besenderten Gamsindividuen Flächen oberhalb der Waldgrenze bevorzugen.
Wie geht es weiter?
Zusammenfassung
Die ersten Erkenntnisse weißen darauf hin, dass besendertes Gamswild sehr variabel in seiner saisonalen Raumnutzung ist. Die bisher beobachteten Bewegungsmuster zeigen sowohl klassische saisonale Wanderungen mit klaren Trennungen von Sommer- und Winterstreifgebieten als auch kleinräumige Ganzjahreseinstände mit nur wenigen saisonalen Verschiebungen.
Das Gamswild kann sich durch die Variabilität in der Raumnutzung offensichtlich gut an die saisonalen Veränderungen in seinem Lebensraum anpassen. Detailliertere Auswertungen zur Lebensraumnutzung und den möglichen Auswirkungen von menschlichen Einflüsse sollen folgen, sobald die notwendige Stichprobengröße hinsichtlich der besenderten Individuenzahl und Verteilung im Studiengebiet erreicht ist.
Projekt
Literatur
- Aebischer, N. J.; Robertson, P. A.; Kenward, R. E. (1993): Compositional analysis of habitat use from animal radio tracking data. Ecology, 74(5), S. 1313–1325
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- Cumming, G. S.; Cornelis, D. (2012): Quantitative comparison and selection of home range metrics for telemetry data. Diversity and Distributions 18(11): S. 1057–1065; doi: 10.2307/23326744
- Dematteis, A.; Giovo, M.; Rostagno, F.; Giordano, O.; Fina, D.; Menzano, A.; ... und Meneguz, P. G. (2010): Radio-controlled up-net enclosure to capture free-ranging Alpine chamois Rupicapra rupicapra. European Journal of Wildlife Research, 56(4), S. 535–539
- Morris, L. R.; Proffitt, K. M.; Blackburn, J. K. (2016): Mapping resource selection functions in wildlife studies: concerns and recommendations. Applied Geography, 76, S. 173-183
- Mueller, T.; Fagan, W. F. (2008): Search and navigation in dynamic environments - From individual behaviors to population distributions. Oikos 117(5): S. 654–664; doi: 10.1111/j.0030-1299.2008.16291.x
- Schröder, W.; Elsner-Schack, I.; Schröder, J. (1983): Die Gemse. Verein zum Schutz der Bergwelt e.V. München (Ed.): Jahrbuch, 1983, S. 33–70
- Silvy, N. J.(2012): The wildlife techniques manual. 1. Research. Johns Hopkins University Press
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Weiterführende Informationen
- Beobachten, analysieren, handeln - Modernes Wildtiermanagement – LWF aktuell 129
- Schalenwildmanagement im Bergwald – LWF aktuell 129
- Erhebung der räumlichen Differenzierung, der Konnektivität und des genetischen Zustands der Bayerischen Gamsvorkommen
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