Ernst Segatz
Biodiversität und waldbauliche Behandlung von Edelkastanienwäldern – LWF Wissen 81
Ist von der Baumart Edelkastanie die Rede, denkt man in Deutschland wohl zuerst an einen mehr oder weniger exotischen Baum des Weinbauklimas im Südwesten, an den herben Geruch und die weiße Pracht zur Zeit der Blüte im Frühsommer sowie an Maronen als herbstlichen Genuss zum neuen Wein.
Schon die Eigenschaften und die Verwendung des Holzes sind nur wenigen bekannt und das Wissen darüber ist meist auf das Ortstypische und Ortsübliche beschränkt. Auch stellt sich bei einer ursprünglich in Mitteleuropa nicht heimischen Art eher weniger die Frage nach ihrem Beitrag zur Biodiversität. So fehlen in der Folge im Natura 2000-Netzwerk für Deutschland Edelkastanien-Lebensraumtypen (LRT).
Ein im September 2017 im pfälzischen Bad Bergzabern durchgeführter internationaler Workshop mit dem Titel »Natura 2000 Forest habitat types on secondary sites – conservation and management strategies« deutet jedoch auf ein Umdenken hin, in dem auch nicht autochthonen Baumarten naturschutzfachliche Werte zugesprochen werden. Edelkastanienbestände wurden als schützenswerte Habitattypen diskutiert.
Biodiversität des Bodenlebens
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Abb. 1: Wurzelbild einer jungen Edelkastanie. (Quelle: Kutschera und Lichtenegger 2002)
Der Einfluss der Edelkastanie auf die Biodiversität beginnt mit ihrer Einwirkung auf Boden und Standort in Form ihrer spezifischen Art der Durchwurzelung, des typischen Nährstoffbedarfs sowie der Besonderheiten hinsichtlich der Streu aus abgeworfenen männlichen Blütenkätzchen nach der Blüte, Laubblättern sowie Früchten im Herbst.
Sie wächst optimal auf durchlässigen, sehr gut durchlüfteten Böden und als Säurezeiger in einem Bereich von pH 3,5 bis 5,5. Auf staunassen Böden reagiert die Edelkastanie empfindlich bezüglich des Wurzelwachstums und leidet dort häufig unter Befall mit [i]Phytophthora[/i]-Pilzen, die die sogenannte Tintenkrankheit hervorrufen. Deren mit Geißeln ausgestattete Sporen benötigen für die Fortbewegung im Boden freies Bodenwasser.
Die Edelkastanie wird als Tiefwurzler bezeichnet, ihre Wurzeltracht soll am ehesten jener der Eichen entsprechen (Kutschera und Lichtenegger 2002). Dies wäre eine weitere Parallele zu den [i]Quercus[/i]-Arten. Typisch sind, wie bei der Stieleiche, die Vorwüchsigkeit einer Polwurzel (Abbildung 1) und ein anfängliches Zurückbleiben der Seitenwurzeln (Kutschera und Lichtenegger 2002).
Auf tief zu durchwurzelnden Böden dringt sie bis zu den gleichmäßiger feuchten und gleichmäßiger temperierten Bodenschichten vor (Kutschera und Lichtenegger 2002). »Nach der bisher gebräuchlichen Typisierung würde das Wurzelsystem älterer Edelkastanien unter Vernachlässigung der über den Kronenrand hinausragenden Wurzeln am ehesten einem ›Herzwurzelsystem‹ entsprechen« (Kutschera und Lichtenegger 2002).
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Abb. 2: Wurzelbild eines Edelkastanien-Stockausschlags. (Quelle: Kutschera und Lichtenegger 2002)
Als Folge eines Stockhiebes schlägt sie leicht wieder aus dem Stock aus, was die Niederwaldwirtschaft mit der Edelkastanie erst ermöglicht. Stockhiebe fördern die Bildung sprossbürtiger Wurzeln (Abbildung 2). Unter günstigen Bedingungen erschließt der Baum mit seinem Wurzelwerk eine Tiefe von 2 – 3 m (Kutschera und Lichtenegger 2002).
Die Humusform unter den Edelkastanien-Beständen ist in der Regel als L- bis F-Mull anzusprechen (Abbildungen 3 und 4). Dies entspricht nicht der Erwartung, wenn man einen wie bei der Eiche hohen Gerbstoffgehalt der derben, ledrig glänzenden Blätter unterstellt. Sie sind zudem mit einer Wachsschicht überzogen, die der Selbstreinigung in Form eines »Lotus-Effekts« dient (Anders 2010). Die günstige Humusform belegt trotzdem eine leicht zersetzbare Streu.
Dies passt auch zu dem Kalium-Reichtum der Blätter (IG Edelkastanie 2006). Bodenorganismen weisen ein Kohlenstoff-Stickstoff- Verhältnis (C /N-Verhältnis) von rund 25:1 auf. Bei der Blattstreu der Edelkastanie liegt dieses mit 23:1 in einem nahezu optimalen Bereich. Nach eineinhalb Jahren sind die Blätter weitgehend zersetzt (Scheffer und Ulrich 1960). Bei der Eiche, die die Humusform Moder bildet, liegt das C /N-Verhältnis dagegen mit 47:1 deutlich ungünstiger.
Abb. 3: Blattstreu und Fruchtkapsel
Beide Fotos: E. Segatz
Nach der Blüte im Frühsommer fällt in den älteren Edelkastanien- Beständen eine fast bodendeckende, blassgelbe, teilweise zentimeterstarke Schicht aus herabgefallenen männlichen Blütenkätzchen auf (Abbildung 5). Blüten als generative Organe besitzen tendenziell höhere eiweißbürtige Phosphor- und Stickstoffgehalte als vegetative Pflanzenteile. Daher kann angenommen werden, dass durch den Blütenfall eine gewisse Düngewirkung auf den Boden ausgeht, was ebenfalls die Mull-Humusform begünstigen sollte. Hier besteht noch Forschungsbedarf, da keine entsprechenden Angaben in der Literatur zu finden sind. Die Biomasse der Blüten könnte relativ leicht ermittelt werden und der Input in das Ökosystem Boden über die Elementgehalte gut zu bestimmen sein.
Das unter günstigen Bedingungen ausgebildete tiefgründige Herzwurzelwerk der Edelkastanie und ihre sehr gut abbaubare Streu der Blüten und Laubblätter schaffen die Voraussetzungen für ein reiches Bodenleben und eine hohe Biodiversität der Bodenorganismen.
Die Edelkastanie tritt jahreszeitlich sehr spät in die vegetative Phase ein. Austrieb und Blühphase treten normalerweise ab Mai ein, was der Edelkastanie erlaubt, vor allem während der Blüte das Risiko von Spätfrösten zu reduzieren (Conedera 2007).
Biodiversität der Bestäuber
Morphologisch gesehen ist die Edelkastanie eine einhäusige Pflanze (Conedera 2007), das heißt, beide Geschlechter finden sich auf derselben Pflanze. Trotz der Präsenz beider Geschlechter auf demselben Baum gehört die Edelkastanie jedoch zu den Arten, die sich nicht selbst befruchten können und deshalb zur Fremdbestäubung gezwungen sind (Conedera 2007).
Die Edelkastanie weist sowohl die typischen Merkmale der Insektenbestäubung als auch diejenigen der Windbestäubung auf. Beide Merkmale weisen auf ein evolutives Übergangsstadium hin (Conedera 2017). Sie entwickelt sich von einer insekten- zu einer windbestäubten Art. Die Insektenbestäubung ist üblicherweise von sekundärer Wichtigkeit, kann aber in Fällen von besonders feuchten meteorologischen Bedingungen während der Blüte wichtig sein: Der Pollen wird dann viskos, klebrig und wenig geeignet für den Transport durch die Luft. Für die Insektenbestäubung überwiegen nebst Honigbienen Käfer, Schwebfliegen und Hummelarten. Die größere Effizienz der Windbestäubung bleibt aber unbezweifelt, was der große Erfolg dieser Befruchtungsart bei trockenem und windigem Wetter beweist (Conedera 2007).
Die Kerbtiere profitieren bei der Edelkastanienblüte sowohl vom Nektar der weiblichen als auch vom Pollen der männlichen Blüten. Zeitgleich zur Nektartracht findet eine Honigtau-Tracht statt, wobei den Honigtau nach Pritsch (2007) in Schabacker, Lehnigk, Eichhorn und Hapla (2014) die Eichen-Napfschildlaus [i](Eulecanium rufulum)[/i], die Edelkastanien-Rindenlaus [i](Lachnus longipes)[/i] sowie die Edelkastanie-Zierlaus [i](Myzocallis castanicola)[/i] erzeugen.
Für den Menschen steht die Nutzung der blühenden Edelkastanienbestände als Bienenweide in der Imkerei im Vordergrund. Hier spielen nicht unbedeutende wirtschaftliche Interessen eine Rolle. Der Beitrag der Baumart zur Erhaltung der Bienen ist jedoch existentiell auch für den Menschen und kann in einer Zeit, in der das Insektensterben in aller Munde ist, nicht hoch genug gewertet werden. Dieser Beitrag wird finanziell nicht honoriert, es soll hier aber auf die Bedeutung der Edelkastanie für den Artenschutz hingewiesen werden.
Biodiversität in unterschiedlichen Bewirtschaftungsformen
Niederwald
Abb. 6: Alter Edelkastanienstock mit jungen Stockausschlägen (Foto: E. Segatz)
Aufgrund des starken Stockausschlagvermögens der Edelkastanie und ihrer Fähigkeit, Konkurrenzbaumarten das Licht zu nehmen, dominiert sie nach einem Kahlhieb sehr stark und tritt auf Standorten mit guten Wuchsbedingungen nahezu als »Monokultur« auf. Häufig finden sich nur wenige Flächenanteile anderer Baumarten wie Birke, Kiefer oder Eiche, abhängig von den Baumarten in der Nachbarschaft.
Niederwälder gelten als eher naturferne Standorte. Die nutzungsbedingten Eingriffe bei der Niederwaldbewirtschaftung führen jedoch zu katastrophenarti- gen Störungen innerhalb des Waldökosystems, wie sie auch in überalterten und durch natürliche Katastrophen gestörten Naturwäldern auftreten (Scherzinger 1996; Kaule 1991).
Die daraus resultierenden ökologischen Besonderheiten des Niederwalds (hoher Wärme- und Lichtgenuss, kleinklimatische Extreme, Erosionsanfälligkeit des Standorts mit Entstehung besonderer Kleinstrukturen u. a.) und dessen damit zusammenhängende Bedeutung für die Artenvielfalt treffen natürlich auch für den Edelkastanien-Niederwald zu. Da die einzelne Teilfläche in sich sehr homogen sein kann, ist eine mosaikartige Verteilung, wie dies früher beim Flächenfachwerk der Fall war, besonders günstig zu beurteilen.
Durch das sehr stark ausgeprägte Stockausschlagvermögen und das üppige Austreiben großblättriger Reiser währt die hinsichtlich der Artenvielfalt wichtigste Lichtwald-Phase mit stärkerer Besonnung auch des Waldbodens jedoch nur wenige Jahre. Selbst starker Wildverbiss hindert in der Regel die intensive Wiederbestockung und das Dunkelwerden der Jungbestände nicht entscheidend.
Große Bedeutung, insbesondere in Niederwäldern, die bereits mehrfach auf den Stock gesetzt wurden, kommt den häufig voluminösen Stöcken zu. Sie bilden einen großen Vorrat an ober- und unterirdischem Totholz in Verbindung mit der Entstehung neuen Wurzelgewebes (siehe Abbildungen 2 und 6). Der Wechsel von feucht und trocken, absterbenden Teilen und Neubildung in Kontakt mit dem Mineralboden bieten optimale Lebensbedingungen für viele Pilze und Insekten.
Hinsichtlich der Alterungs-, Absterbe- und Erneuerungsprozesse am Edelkastanienwurzelstock und deren Bedeutung für viele Organismengruppen besteht noch Forschungsbedarf.
Überalterter Niederwald, mit und ohne Eingriffe
Mit zunehmendem Alter und Dichtschluss ändert sich das Artenspektrum, die Vielfalt der Freilandarten nimmt ab. Greift der Mensch nicht ein, scheiden viele Stockausschläge durch die starke, meist innerartliche Konkurrenz aus und allmählich baut sich ein Vorrat an schwachem, dann allmählich stärker werdendem, stehendem Totholz auf.
Benner (2010) zählte rund 4.230 Stämme in einem 27 Jahre alten Edelkastanien-Bestand, davon waren 1.950 Stämme (etwas mehr als 45 %) bereits abgestorben.
Auch diese Strukturen liefern einen positiven Beitrag zur Biodiversität. Waldbaulich und ertragskundlich begründete steuernde Eingriffe zur Vereinzelung und Förderung der Wertträger wirken logischerweise diesem Prozess entgegen.
Mittelwald
In Deutschland ist kein Mittelwaldbetrieb mit Edelkastanie bekannt. Denkbar ist jedoch, dass man aus Gründen des Landschaftsbildes und der Strukturvielfalt eine gewisse Zahl an Überhältern belässt (Abbildung 7). Die starke Wasserreiserbildung der Edelkastanie nach Freistellung erschwert jedoch die Erzeugung astfreien Wertholzes und setzt eine langfristige Erziehung geeigneter Überhälter aus jungen Edelkastanien voraus.
Mittelwaldstrukturen verbinden Elemente des Niederwalds mit den Eigenschaften solitärer Altbäume. Ein Nutzungsverzicht einzelner alter Bäume würde einen wesentlichen Beitrag zur Biodiversität liefern.
Zielstärkenorientierte, hochwaldähnliche Behandlung
Ein rein auf Zielstärke hin orientiertes Waldbaukonzept mit der Auswahl von ca. 50 bis 70 Z-Bäumen von besonders guter ökonomischer Qualität nach dem Q /D-Verfahren (»Qualifizieren /Dimensionieren«), mit einer wiederkehrenden Freistellung der Wertträger, lässt wenig Raum für die Entwicklung von Biotopstrukturen. Die stärksten Bäume werden in Form eines Schnellwuchsbetriebes bereits in einem Zeitraum von weit unter hundert Jahren zur Hiebsreife gebracht, ohne jedoch eine entsprechende ökologische Reife zu entwickeln.
Da die Edelkastanie in der Lage ist, auf guten Standorten jährlich einen Durchmesserzuwachs von rund 1 cm zu leisten, kann sie beispielsweise mit 60 Jahren bereits einen Durchmesser von 60 cm erreichen. In Reinform betrieben, bleiben auf der Fläche außer den Z-Bäume keine weiteren Bäume stärkerer Dimensionen erhalten.
Um ökologische Aspekte zu berücksichtigen, müssten hier bewusst Teilflächen von dieser Behandlung ausgenommen bzw. »ökologische Z-Bäume« mit Biotopstrukturen ausgewählt werden, die in der Regel diametral zur ökonomischen Nutzung stehen.
Erhalt von Altbeständen und Biotopstrukturen
Die wenigen Edelkastanien-Altbestände, in denen die höchsten Artenzahlen aller Organismengruppen dokumentiert wurden, sollten möglichst lange erhalten werden. Die Elemente des rheinland-pfälzischen »Biotop-Altholz-Totholz- (BAT-)Konzepts« – Waldrefugien, Biotopbaumgruppen und einzelne Biotopbäumen (MUEEF 2011) – lassen sich bei der Edelkastanie besonders gut umsetzen, da sie schon relativ früh zur Ausbildung besonderer Biotopstrukturen neigt. Andere Landesforstverwaltungen haben ähnliche Vorgaben zur Erhöhung des Struktur- und Totholzreichtums in Wirtschaftswäldern gemacht. Als Biotopbaum wird ein Baum bezeichnet, der eine Biotop-Funktion in besonderer Weise erfüllt. Als wertbestimmende Merkmale werden unter anderem aufgeführt: Höhlenbäume, Totholz, Altbäume, Bäume mit besonderen Merkmalen, Bäume mit sich lösender Rinde oder Rindentaschen.
Höhlenbäume
Edelkastanien weisen relativ früh und bereits bei geringem Stammumfang Buntspechthöhlen auf (Abbildung 8). Besonders gern legt der Buntspecht seine Höhlen im Bereich abgestorbener Äste an, die als Folge der natürlichen Astreinigung entstanden sind. In Waldrandnähe zimmert sich der Grünspecht gerne seine Bruthöhlen in reife Edelkastanien. Alte Edelkastanien weisen zudem durch das Ausfaulen stärkerer Äste entstandene, geräumigere Höhlen auf, die sehr gern vom Waldkauz angenommen werden. In den »Selven« des Mittelmeerraums brütet häufig der Wiedehopf in solchen Strukturen.
Totholz
Alte Edelkastanien besitzen oft erhebliche Anteile von Kronen-Totholz. Stehendes starkes Totholz entsteht, in den letzten Jahrzehnten gehäuft, als Folge des Befalls mit Edelkastanienrindenkrebs. Dabei lebt unterhalb der Stelle des stammumgreifenden Befalls das Stammstück unter Bildung sogenannter »Angst- oder Wasserreiser « weiter. Bei [i]Phytophthora[/i]-Befall stirbt meist der ganze Stamm innerhalb kurzer Zeit ab, in der Regel truppweise auf staunassen Standorten.
Altbäume (»Methusalembäume«)
Dabei handelt es sich meist um sehr alte Bäume, die ihre wirtschaftliche Zieldimension weit überschritten haben und /oder bei denen Entwertung eingesetzt hat. In den rheinland-pfälzischen Wäldern sind leider als Folge der langen Niederwaldbewirtschaftung so gut wie keine solcher Altbäume anzutreffen. Ausnahmen finden sich nur in parkähnlichen Strukturen mit entsprechendem historischen Hintergrund.
Individuen oder Bestände seltener heimischer Baumarten
Entfällt, wenn man die Edelkastanie nicht als heimische Baumart begreift!
Bäume mit besonderen Merkmalen
Alle im Konzept beschriebenen besonderen Merkmale wie beispielsweise größere Stammverletzungen, Stammfäulen, Mulmhöhlen, Pilzkonsolen, Blitzschäden, ausgebrochene Zwiesel, starker Moos- und Efeubewuchs sowie ungewöhnliche Wuchsformen finden sich insbesondere auch an älteren Edelkastanien. Besonders typisch ist starker Bewuchs mit Efeu, da dieser ebenso wie die Edelkastanie wärmebetonte Klimate bevorzugt.
Bäume mit sich lösender Rinde oder Rindentaschen
Diese Biotopmerkmale finden sich oft im Kontext des Befalls mit Edelkastanienrindenkrebs und Phytophthora- Befall.
»Obligatorische Biotopbäume«
[i]Bäume mit Großhöhlen[/i]
Edelkastanien sind, auch im Verhältnis zu den Eichen, überproportional stark hinsichtlich Großhöhlen ausgestattet, was sehr gut mit dem Entstehen der Bäume aus Stockausschlag und den damit verbundenen früheren Stammverletzungen sowie mit den Folgen von Ringschäle zu erklären ist (Abbildungen 9 und 10). Einzelne Edelkastanien mit Großhöhlen sind legendär, so wie die »Kastanie der 100 Pferde« auf Sizilien, ein Baum, in dessen Höhlung Vieh eingetrieben werden konnte. Es ist jedoch unklar, ob es sich nicht ursprünglich um mehrere zusammengewachsene Bäume gehandelt hat.
[i]Besiedelte Horstbäume[/i]
Wegen des Mangels an Altbäumen leider kaum zu beobachten!
Bäume mit bekannten Fortpflanzungs- und Ruhestätten von FFH-Anhang-IV-Arten (z. B. Eremit, Heldbock) und in FFH-Gebieten Anhang II Arten mit geringem Aktionsradius (z. B Veilchenblauer Wurzelhalsschnellkäfer).
Sehr alte und dicke Edelkastanien besitzen das Potenzial zu Fortpflanzungs- und Ruhestätten sehr seltener Arten. Am Niederrhein in Nordrhein-Westfalen wurde in der Edelkastanienallee bei Schloss Dyck, wahrscheinlich im Jahr 1811 gepflanzt (zum Fundzeitpunkt rund 200 Jahre alt), erstmals das Vorkommen des Eremits an Edelkastanien belegt. Köhler (2016) beobachtete bei seiner Untersuchung in der Pfalz zwar keine FFH-Arten, fand am ältesten Standort jedoch Fraßspuren des Heldbocks [i](Cerambyx cerdo)[/i]. Er geht davon aus, dass sich auch die anderen aus Rheinland- Pfalz bekannten FFH-Totholzkäferarten an Edelkastanie entwickeln können.
Edelkastanienstöcke sind als Substrat für die Larven des Hirschkäfers geeignet (Rinck 2018, mdl. Mitt.).
Über den Schutz von Einzelbäumen hinaus geht die Ausweisung von Biotopbaumgruppen und flächig definierter Elemente sogenannter Waldrefugien. Infolge von Rindenkrebs oder [i]Phytophthora[/i] abgestorbene Baumgruppen könnten unter Berücksichtigung der Verkehrssicherungspflicht als ökologisch wertvolle Kleinflächen erhalten werden, insbesondere auf ungünstigeren Standorten wie Kuppenlagen, im Steilhang usw.
Organismengruppen als Zeiger für ökologische Einnischung
Pilze an Edelkastanie
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Abb. 11: Schwefelporling (Laetiporus sulphureus) an Buche, eine der Pilzarten mit starkem Einfluss auf die Edelkastanie (Foto: E. Segatz)
Pilze treten natürlicherweise erst mit höherem Alter, stärkeren Dimensionen und größerem Totholzanteil der Edelkastanie in zunehmendem Maße auf. Sie sind ähnlich wie die mit ihnen in synökologischem Zusammenhang stehenden Totholzinsekten als Organismengruppe sehr gut geeignet, die von der Edelkastanie eingenommene ökologische Nische zu beschreiben und zu bewerten.
2016 erschien eine zusammenfassende Arbeit über »Pilze an [i]Castanea sativa[/i]« von J. A. Schmitt, der auch im Projekt »Die Edelkastanie am Oberrhein« verschiedene Standorte an der Haardt untersucht hat. Die folgenden Ergebnisse sind dieser verdienstvollen und in ihrer Gesamtdarstellung bisher einmaligen Arbeit entnommen. Ausgewertet wurden die eigenen Erhebungen von J. A. Schmitt sowie eine Vielzahl mykologischer Publikationen. Ziel war es, möglichst viele der mit [i]Castanea sativa[/i] assoziierten Pilztaxa sowohl der Mykorrhiza bildenden, als auch saprobiotischen und parasitischen Arten, Varietäten und Formen zu erfassen. Letztere kommen an Holz, Wurzeln, Rinde bzw. Borke, Blütenständen, Früchten, Fruchtschalen, Blättern und Streu vor. Nicht aufgenommen wurden von ihm Flechten und Flechten begleitende Pilzarten an der Borke lebender Edelkastanien.
Insgesamt wurden 805 Pilztaxa an [i]Castanea sativa[/i] dokumentiert. Alle Pilztaxa wurden hinsichtlich ihrer systematischen Zugehörigkeit und ihrer Ökologie aufgeschlüsselt. J. A. Schmitt beschreibt sieben neue Pilzarten bzw. -varietäten an [i]Castanea sativa[/i].
523 Pilzarten gehören zu saprobiotischen bzw. parasitischen Sippen. 41 % dieser Pilze sind Nichtblätterpilze, 23 % Schlauchpilze und 17 % Blätter- und Röhrenpilze.
Interessant ist in diesem Zusammenhang die Frage nach den Affinitäten (Schmitt 1987a) der holzabbauenden Pilze zu [i]Castanea[/i] im Vergleich zu den Affinitäten zur nahe verwandten Gattung [i]Quercus[/i] im Saarland (Schmitt et al. 2013). Es zeigte sich, dass die aufgeführten Pilzarten deutlich höhere Affinitäten zu der Edelkastanie aufwiesen, diese also deutlich bevorzugt besiedelt wird, als die heimischen Eichen. Möglicherweise hängt dies mit einer geringeren Pilz-Resistenz der Edelkastanie im Vergleich zu den Eichen zusammen. Eichen konnten wohl als autochthone Baumarten im Laufe der Evolution eine effektivere Pilzabwehr entwickeln als die Edelkastanie.
Geht man von einer aus menschlicher, ökonomisch ausgerichteter Sicht »schädigenden« Pilzwirkung aus, können rund 82 % als harmlos eingestuft werden. Rund 14 % verursachen »geringe Schäden«.
Für »erhebliche Schäden« sind 13 Pilzarten, das sind rund 3 % aller dokumentierten Pilze, verantwortlich, darunter die bekannteren Arten [i]Armillaria mellea[/i] (Hallimasch), [i]Fistulina hepatica[/i] (Ochsenzunge) und [i]Fomes fomentarius[/i] (Echter Zunderschwamm).
»Starke Schäden«, die oft zum Absterben des Baumes führen, bewirken nur drei Arten (rund 0,6 % aller festgestellten Pilze), an erster Stelle [i]Cryphonectria parasitica[/i] (Edelkastanien-Rindenkrebs), dann [i]Phytophthora cambivora[/i], ein Erreger der Tintenkrankheit. Beide führen auch am Oberrhein zu flächenmäßig bedeutenden Ausfällen. Als weiterer Pilz dieser Gruppe wird [i]Laetiporus sulphureus[/i] (Schwefelporling) genannt (Abbildung 11).
Erstmals berichtet J. A. Schmitt auch über Mykorrhiza- Pilze, die mit der Edelkastanie in Symbiose leben. Da in der Literatur zu diesem Thema oft Daten aus Mischwäldern mit Edelkastanie vorliegen, können daraus nicht immer sichere Aussagen über die Mykorrhiza- Bindung von Pilzen an [i]Castanea sativa[/i] gemacht werden, weshalb in der Arbeit nur solche Pilztaxa aufgenommen wurden, die dezidiert [i]Castanea sativa[/i] als Mykorrhizabiont angeben.
Bei den 287 Mykorrhizabionten dominieren die Blätter- und Röhrenpilze mit 93 %. Diese sind nicht ausschließlich an [i]Castanea[/i] gebunden, sondern ganz überwiegend an Arten der [i]Fagales[/i], hier vor allem an nahe verwandte [i]Quercus[/i]-Arten, insbesondere die heimischen Arten [i]Quercus robur[/i] und [i]Quercus petraea[/i]. Mykorrhiza-Pilze sind von essenzieller Bedeutung für die Ernährung und die Wasserversorgung vieler Laubbäume und für die Stabilität entsprechender Waldökosysteme.
Flechten auf Edelkastanien
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Abb. 12: Physcia stellaris, eine Flechte an Edelkastanie (Foto: R. Cezanne/M. Eichler)
Flechten als Lebensgemeinschaften von Algen und Pilzen wurden im Edelkastanienprojekt wegen ihrer großen Aussagekraft hinsichtlich unterschiedlicher ökologischer Bedingungen auf 15 älteren Bäumen dreier unterschiedlicher Standorte untersucht. Der Baum wurde von der Aufnahmemethodik her dreigeteilt in den unteren Stammbereich bis 2 m, in den darüber anschließenden Bereich bis zum Kronenansatz und in den Kronenraum selbst.
Insgesamt wurden 108 Taxa bestimmt, davon 99 eigentliche Flechten und neun lichenicole, also flechtenbewohnende Pilze, die von Flechtenkundlern mit aufgenommen werden. Die höchste an einer einzelnen Edelkastanie festgestellte Artenzahl betrug 55, im Mittel fanden sich 40 Flechtenarten pro Baum (Cezanne und Eichler 2012).
Nach Wuchsformen konnten 60 % den Krustenflechten, 33 % den Blattflechten (Abbildung 12) und 7 % den Strauchflechten zugeordnet werden. In der Krone wuchsen meist mehr Arten als am Stamm, 23 Arten ausschließlich in der Krone. 31 Arten lebten auf Totholz, davon jedoch nur zwei Arten ausschließlich.
Unter den Flechten fanden sich auch seltene Arten, zwölf Arten der Roten Liste für Deutschland und 27 Arten der Roten Liste für Rheinland-Pfalz. Fünf bisher in RLP unbekannte Arten wurden entdeckt, zwei Arten der Kategorie »ausgestorben oder verschollen« wiederentdeckt.
Dietrich und Bürgi-Meyer (2011) kommen für die »Chestenenweid« am Vierwaldstätter See im Kanton Luzern zu ähnlich reichhaltigen Befunden und äußern: »Die Edelkastanie stellt das wertvollste Substrat für baumbewohnende Flechten dar«.
Moose auf Edelkastanien
Moose können ebenfalls als sehr gute Indikatoren unterschiedlicher Umwelteinflüsse dienen. Hinsichtlich des Moosarten-Inventars wurden an den 15 untersuchten Altbäumen dreier verschiedener Standorte 30 Taxa bestimmt, davon 26 Laubmoose und vier Lebermoose (Röller 2012).
Weitere elf Arten an Edelkastanie wurden bei einer erweiterten Suche auf feuchteren Standorten dokumentiert. Die höchste Artenzahl an einem Einzelbaum betrug 17, im Mittel zehn. Auch bei den Moosen fanden sich seltenere Arten, z. B. neun Arten der Roten Liste Rheinland-Pfalz und mit Rogers Goldhaarmoos [i](Orthotrichium rogeri)[/i] eine seltene, neue Art (Abbildung 13).
Mit Edelkastanie zusammenlebende Käfer
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Abb. 14: Cardiophorus gramineus, mit Ameisen zusammenlebend. (Foto: F. Köhler)
An vier Edelkastanienstandorten in der nördlichen Oberrheinebene bei Freinsheim und am Haardtrand bei Edenkoben führte F. Köhler im Jahr 2012 im Auftrag der FAWF Rheinland-Pfalz eine Bestandserfassung der Totholzkäfer (Coleoptera) durch. Die Altersspanne der untersuchten Bäume reichte von einem ca. 50-jährigen Jungbestand bis zu über 300-jährigen Edelkastanien in einem Edelkastanienhain mit ca. 24 Altbäumen (Köhler 2016).
Zur Untersuchung wurde das Standardmethodenprogramm der rheinland-pfälzischen Naturwaldforschung aus Flugfallen, Leimringen, Totholzgesiebe und Klopstockfängen eingesetzt, lokal ergänzt um weitere Techniken wie Baumhöhleneklektoren, Lichtfallen, Flugköderfallen, Bodenfallen und Autokescher.
131 Proben enthielten 29.076 vollständig bis auf Artniveau bestimmte Käfer. An den vier Standorten wurden zwischen 278 und 571 Käferarten gefunden, insgesamt 1.002 Käferarten (Abbildungen 14, 15 und 16).
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Abb. 15: Ampedus cardinalis (Urwaldreliktart und Pilzkäfer an Schwefelporling). (Foto: F. Köhler)
Köhler (2016) wies neben neun sogenannten Urwald- Reliktarten an Edelkastanie 182 Vertreter der Roten Liste Deutschlands nach, darunter viele hochgradig gefährdete Baummulm- und Baumhöhlenbewohner.
Lediglich rund 45 % der Käferarten sind an Waldbiotope gebunden, wobei ein auffällig hoher Anteil lichte Gehölzstrukturen bevorzugt (Köhler 2016) ein Hinweis auf die Behandlung alter Bestände unter dem Aspekt der Artenvielfalt.
200 Offenlandbewohner hängen mit der starken Auflichtung dreier Untersuchungsbestände zusammen. 329 Arten sind an Totholz gebunden, 103 Arten davon leben lignicol (Holzkäfer), 100 corticol (Rindenkäfer) oder succicol (Saftkäfer) und 55 Arten polyporicol (Pilzkäfer), 71 Arten sind xylodetriticol (Mulmkäfer) oder xylonidicol (Nestkäfer) (Köhler 2016).
Sowohl für die wenigen in der Literatur genannten als auch beobachteten 329 Xylobionten ergibt sich eine hohe Übereinstimmung mit der an Eiche [i](Quercus)[/i] bekannten Totholzkäferfauna. Im standardisierten Vergleich mit der Totholzkäferfauna rheinland-pfälzischer Naturwaldreservate erweisen sich die älteren Edelkastanienstandorte als ähnlich artenreich wie die international bedeutsamen Reservate im Bienwald (Köhler 2016).
Resumée
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Abb. 16: Hedobia regalis (Poch-, Klopf-, Bohr- oder Nagekäfer im Holz, wärmeliebend). (Foto: F. Köhler)
Die Daten und Zusammenhänge aus der Untersuchung der Totholzkäfer zeigen, dass ein verstärkter Anbau der Edelkastanie im Zuge der Klimaerwärmung der Erhaltung und Förderung seltener und gefährdeter Totholzkäfern und Artengemeinschaften dienen kann (Köhler 2016). Köhler fordert daher eine Totholzstrategie auch in bewirtschafteten Beständen, insbesondere mit Duldung von Höhlenbäumen und eine ausreichende Zahl stillgelegter Flächen.
Auch die weiteren untersuchten Organismengruppen deuten in dieselbe Richtung. Das Inventar an Pilz-, Flechten- und Moosarten an Eiche ist weitgehend identisch mit dem der Edelkastanie. Insbesondere die große Anzahl an Mykorrhizapilzen belegt die Einnischung der Edelkastanie in die wärmeliebenden heimischen Waldökosysteme.
Zusammenfassung
In der vorliegenden Abhandlung wird der Versuch unternommen, sich den objektiven Gegebenheiten bezüglich des Beitrags der Edelkastanie zur Biodiversität in unseren Wäldern und in der Landschaft anhand von Erkenntnissen und Untersuchungsergebnissen aus dem INTERREG-Projekt »Die Edelkastanie am Oberrhein« anzunähern.
Neben der Beschreibung von Aspekten der Beeinflussung des Standorts durch den Baum und von Besonderheiten der Fortpflanzungsökologie in Bezug auf die Insekten wird zudem versucht, die ökologischen Auswirkungen unterschiedlicher waldbaulicher Behandlungsmodelle grob zu skizzieren. Die Möglichkeiten, die die Edelkastanie für die Umsetzung eines Biotopholz-, Altholz- und Totholzprojekts bietet, werden anhand der dafür geschaffenen Elemente diskutiert.
Ausführlich werden Organismengruppen wie Pilze, Flechten und Moose sowie Totholzkäfer behandelt, die Hinweise auf das Einfügungsvermögen der Baumart in bestehende Waldökosysteme geben können.
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