Bernd Stimm
100 Jahre "Fichtenhaus" – LWF aktuell 121
Ein außergewöhnliches Fichtengebüsch mutiert sich zurück. Ist des Rätsels Lösung in Sicht?
»Ein von Fichten gebildetes, selbst für das Auge undurchdringliches dichtes Gebüsch«: So beschreibt 1919 der Münchener Forstpathologe Carl von Tubeuf das »Fichtenhaus«. In früherer Zeit vielleicht aus einer gärtnerischen Spielform entstanden – man weiß es nicht –, verändert die Fichte jetzt wieder ihr Erscheinungsbild und zeigt sich in Teilen als »normale« Fichte. Eventuell könnten molekulargenetische Untersuchungen das Geheimnis lösen.
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Abb. 1: »Fichtenhaus« am Hopfensee bei Füssen (aus: Tubeuf 1919)
Dass es sich um ein forstbotanisches Kuriosum handelt, wird dem Leser gleich offenbar: »Oberhalb des ersten Bauernhofes … steht auf den Wiesen ein merkwürdiger, dichter Busch von fremdartiger Gestalt und Höhe. Kommt man ihm näher, so erkennt man, daß es ein von Fichten gebildetes, selbst für das Auge undurchdringliches dichtes Gebüsch ist.«
Dieses Gebüsch hatte, so Tubeuf, »einen Eingang zu einem kapellenartigen Hohlraum, in dem sich eine kleine Bank befindet. Man heißt diese sonderbare Bildung dort ›das Haus‹«. Die Form des Naturhauses »erinnert von außen etwa an die Gestalt eines riesigen breiten Termitenhügels« (Tubeuf 1919).
Das Fichtenhaus 1980
Wie mag das Haus wohl entstanden sein?
Abb. 2: Fichtenhaus 1980: Im Hintergrund Ostteil mit normaler Verzweigung und Benadelung, im Vordergrund Westteil mit »buschigem« Gebilde. Links unten: »Normaler« Ast aus Knospenmutation. (Foto: B. Stimm, TUM)
Außergewöhnlich ist die Wuchsform: Die untersten Äste sind an den Stämmen in circa 2 m über dem Boden inseriert und orientieren sich in einem spitzen Winkel abwärts. Nach Tubeufs Angaben waren die Äste oft nur an ihrem äußersten Ende dicht, jedoch kurz benadelt, was hexenbesenartig angemutet hat. Im Jahr 1919 war das ganze Haus durch diese Art der Beastung und Benadelung charakterisiert.
Im Jahr 1980 waren noch neun Stämme und 2018 noch sechs Stämme vorhanden. Die beiden Dicksten hatten 2018 einen Brusthöhendurchmesser von 86 cm bzw. 49 cm. 1980 zeigten sich mir erste auffällige – von Tubeufs Beschreibung abweichende – Veränderungen. Der ostwärts orientierte Abschnitt des Hauses hatte irgendwann in jüngerer Vergangenheit begonnen, neue Triebe und Nadeln zu bilden, wie wir sie gemeinhin von ›normalen‹ Fichten kennen. Dieser Teil erreichte mittlerweile eine Höhe von über 10 m.
Besonders auffällig jedoch war ein einzelner etwa neun Jahre alter Zweig, der inmitten des buschigen Westteils in nördlicher Richtung dem zweitdicksten Stamm des Hauses entsprang. Dieser Trieb reichte damals etwa 1 m über die ansonsten gänzlich verbuschte Kronenoberfläche hinaus, die ebenfalls aus dem zweitdicksten Stamm gebildet wurde. Mittlerweile entwickelte sich der Zweig bis zum Jahr 2018 zu einem über 12 m hohen, kandelaberartig aufgerichteten Ersatzgipfel, der an seiner Basis 3 m über dem Boden bereits mehr als 40 cm Durchmesser aufweist.
Bewurzelte Absenker oder …
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Abb. 3: Fichtenhaus 1980: Detail des normalen Astes inmitten der verbuschten Krone des Westteils. Dieser Ast hat sich bis 2018 zu dem 12 m hohen Ersatzgipfel entwickelt. (Foto: B. Stimm, TUM)
Es dürften nicht innere Wuchsanlagen hier wirksam gewesen sein, sondern äußere Beeinflußungen gewirkt haben« (Tubeuf 1919, S. 59f). Andererseits hebt Tubeuf auf die besondere Erscheinungsform ab, wenn er sagt »Unsere Fichtengruppe von Hopfen ist nun auch in engem, ja sehr engem Stande erwachsen und hat sich daher zu einem einheitlichen Gebilde entwickelt, bei dem sich nach dem dunkeln Innern die Äste nicht erhalten und neue nicht bilden konnten.
Die ganze Gruppe formte eine gemeinsame einheitliche Krone, die untern Äste wuchsen steil nach abwärts und krochen förmlich auf dem Boden nach außen, um mit der übrigen Krone schrittzuhalten.« In einer Fußnote erklärt Tubeuf, dass auf eine solche Weise auch Absenker entstehen können.
… Schadinsekten?
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Abb. 4: Fichtenhaus 2018: Rechts der sich aus dem buschigen Westteil sich entwickelnde Kandelaber, links daneben der verbliebene buschig ausgeprägte Teil der Krone. (Foto: B. Stimm, TUM)
Tubeuf vermutet jedoch als mögliche Ursache für dieses Erscheinungsbild ein Einwirken von Schadinsekten, wie der Lärchengallmücke (Cecidomyia kellneri) und der Fichtengespinstblattwespe (Lyda hypotrophica), die Knospen und Nadeln zerstören und so die bürstenartige Triebbildung auslösen können. »Die merkwürdige Wuchserscheinung erklärt sich aber jedenfalls durch die immer wiederkehrende Zerstörung von Knospen und jungen Sprossen, die Bildung von Ersatzknospen aus den Achseln der Knospenschuppen und das Austreiben der schlafenden Knospen am Endteil der Sprosse.« (Tubeuf 1919, S. 64). Eine gewisse Erklärungsnot äußert Tubeuf, wenn er sagt »Der Merkwürdige ist, daß diese isolierte Fichtengruppe dauernd derselben Schädigung ausgesetzt blieb, während an den Fichten des nahen Waldrandes Ähnliches nicht zu beobachten war.«
Vor diesem Hintergrund müssen die zwischenzeitlich beobachteten und bereits angedeuteten Veränderungen nochmals betrachtet werden. Folgt man der Interpretation Tubeufs, müssten also zwischen 1919, 1980 und 2018 die dauernden Schädigungen zumindest zum Teil weggefallen sein, sodass sich in der Folge im Ostteil des Hauses ein normales Wachstum und ab etwa 1970 ein solches auch im Westteil des Fichtenhauses einstellt. Dagegen spricht aber die heute noch – nach wie vor – überwiegend vorhandene buschige Verzweigung im Westteil des Hauses. In diesem Teil blieb die buschige Verzweigung bis dato erhalten; dieser Abschnitt trägt keine Blüten und Zapfen (siehe bereits Tubeuf 1919).
Zuchtform und Genmutation
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Abb. 5: Fichtenhaus 2018: Detail des Kandelabers mit Blütenknospen, rechts daneben der verbliebene buschig ausgeprägte Teil der Krone ohne Blüten. (Foto: B. Stimm, TUM)
Knospenmutationen sind genetische Veränderungen des Vegetationskegels und können zu deutlichen morphologischen Veränderungen ganzer Zweige, unter anderem zu Fasziationen, führen (Schütt et al. 1992). Sie bilden bei vegetativ vermehrbaren Pflanzen seit Jahrzehnten eine wichtige Quelle für neue wirtschaftlich interessante Züchtungsprodukte im Obst- und Gartenbau, wie zum Beispiel Kultivare (Rohmeder & Schönbach 1959; Foster & Aranzana 2018).
Ein Jahr nachdem die Fichte zum Baum des Jahres gekürt wurde und 100 Jahre nach Carl von Tubeufs Entdeckung und Erstbeschrieb bleibt manches von dem Mitgeteilten Spekulation. Vielleicht gelänge es mit Hilfe molekulargenetischer Methoden, etwas mehr Licht ins Dunkel der Entstehungsgeschichte des Fichtenhauses am Hopfensee zu bringen (siehe Heinze & Fussi 2008).
Zusammenfassung
Literatur
- Foster, T.M.; Aranzana, M. J. (2018): Attention sports fans! The far-reaching contributions of bud sport mutants to horticulture and plant biology. Horticulture Research (2018) 5: 44, DOI 10.1038/ s41438-018-0062-x
- Heinze, B.; Fussi, B. (2008): Somatic mutations as a useful tool for studying clonal dynamics in trees. Molecular Ecology 17, S. 4779–4781
- Rohmeder, E.; Schönbach, H. (1959): Genetik und Züchtung der Waldbäume. Verlag Paul Parey, Hamburg und Berlin
- Schütt, P.; Schuck, H.-J.; Stimm, B. (Hrsg.) (1992): Lexikon der Forstbotanik. ecomed-Verlag, Landsberg/Lech – München
- Tubeuf, C. v. (1919): Fichtenhaus am Hopfensee bei Füssen. Naturwissenschaftliche Zeitschrift für Forst- und Landwirtschaft 17, S. 58–64

