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Rupert Seidl und Cornelius Senf
Wie gestört ist Europas Wald? – LWF aktuell 127

Wissenschaftler der TU München beschreiben erstmals anhand von Satellitendaten das Störungsgeschehen in den europäischen Wäldern

Dürre, Borkenkäfer und Waldbrand halten die Forstwirtschaft in Europa aktuell in Atem. Speziell die Jahre 2018 und 2019 haben gezeigt, welche Folgen klimatische Extreme im Wald nach sich ziehen. Vor diesem Hintergrund wird in Europas Forstwirtschaft aktuell intensiv über einen Anstieg von Störungen diskutiert. Die Analyse von Veränderungen braucht jedoch immer eine Referenz, eine Basislinie. Und in Bezug auf Störungen in Europas Wäldern sind die aktuell verfügbaren Referenzdaten lückenhaft und inhomogen. Die hier vorgestellte Arbeit verwendet Satellitendaten, um zum ersten Mal die Störungsregimes in Europa zwischen 1986 und 2016 zu quantifizieren.

Wie häufig treten Störungen auf? Welche Gebiete sind besonders betroffen? Wie groß sind Störungen durchschnittlich? Wie stark fallen sie aus? Diese Fragen charakterisieren das Störungsregime von Ökosystemen (Jentsch et al. 2019). Und da Störungen fundamental die Struktur und Funktion von Wäldern beeinflussen, sollten Antworten auf diese Fragen eigentlich in keiner waldbaulichen Bestandesbeschreibung fehlen.
Jedoch mangelt es vielerorts an belastbaren Informationen zum Störungsregime von Wäldern. So erheben Waldzustandsinventuren oft nur den Kronenzustand von Einzelbäumen, nicht jedoch deren räumlichen Kontext, was keine Rückschlüsse auf die Stärke einer Störung zulässt. Und offizielle Waldschadensstatistiken beziehen sich oft auf die betroffene Holzmenge (Seidl et al. 2014), während ökologisch wichtige Kennzahlen wie zum Beispiel die Flächengröße nicht erhoben werden.

Satellitendaten als Grundlage

Wald am Berg mit SturmwurfZoombild vorhanden

Abb. 1: Störung durch Windwurf, hier Sturm »Vaia« (Foto: C. Senf)

Satellitendaten bieten die Möglichkeit, Störungen im Wald konsistent über große Flächen zu ermitteln. Wenn das Kronendach im Wald verschwindet, ändert sich das Spektrum des von der Oberfläche reflektierten Lichtes – ein Signal, das von Satelliten festgehalten wird (Kennedy et al. 2014).

Den Satelliten des Landsat- Programms kommt dabei eine besondere Stellung zu, da sie das längste zivile Satelliten-Programm der Welt sind (nutzbare Daten seit 1984) und so Analysen über mehr als drei Jahrzehnte ermöglichen.

Für die hier vorgestellte Arbeit wurden vier verschiedene Satelliten-Generationen der Landsat-Reihe verwendet; die horizontale Auflösung beträgt dabei 30 Meter, das entspricht einer Anzahl von 6,3 Milliarden analysierter Pixel für ganz Europa.
Fichtenwald am Berg mit viel totem stehendem HolzZoombild vorhanden

Abb. 2: Wald nach großflächigem Befall durch Borkenkäfer (Foto: C. Senf)

Als Referenzdaten für die Analyse wurden von Forstexperten und -expertinnen manuell knapp 20.000 zufällig über ganz Europa verteilte Landsat-Pixel interpretiert. Für diese Situationen entschieden die Experten individuell, ob auf Basis der Satellitendaten sowie zusätzlicher für das Gebiet vorliegender Informationen eine Störung stattgefunden hat oder nicht.
Diese Referenzdaten wurden in weiterer Folge dafür verwendet, ein Modell zu trainieren, mittels welchem für ganz Europa Störungen auf der Ebene von 30 x 30 m kartiert wurden. Die hier vorgestellten Auswertungen in Hinblick auf das Störungsregime Europas erfolgten dann auf einem 50 km-Raster.

Dabei wurden die Störungsgröße (d.h. die Größe aller zusammenhängenden Pixel, welche im selben Jahr gestört wurden) sowie die Störungshäufigkeit (hier die Anzahl der Störungsflächen pro km² Waldfläche und Jahr) berechnet.
Karte von Europa, Land weiß, Meer blau, gestörte Waldflächen rot; viel rot in Skandinavien, Spanien und PortugalZoombild vorhanden

Abb. 3: Störungen in Europas Wald 1986-2016 (Grafik: LWF)

Als Maß für die Stärke der Störung wurde aus den Satellitendaten berechnet, mit welcher Wahrscheinlichkeit durch eine Störung das komplette Kronendach verschwindet. Ein Wert nahe 1 zeigt daher eine starke Störung an, wohingegen ein Wert nahe 0 eine schwache Störung indiziert.

In allen Analysen wurde eine ökologische Definition von Störung verwendet, d.h. es wurde jedwede Art der Öffnung des Kronendaches unabhängig von ihrer Ursache (Wind, Borkenkäfer, Waldbrand, geregelte Waldnutzung) kartiert. Um in die Analyse Eingang zu finden, musste eine Störungsfläche jedoch mindestens 0,18 ha groß sein.

In Summe wurden Daten für 35 europäische Länder mit einer Waldfläche von 210 Millionen Hektar analysiert. Eine detaillierte Beschreibung der angewendeten Methodik geben Senf & Seidl (2020).

Europas Störungsregime – die Störungsfläche, …

Drei Karten vin Europa, in unterschiedlicher Intensität rot gefärbtZoombild vorhanden

Abb. 4: Das Störungsregime in Europas Wäldern (Grafik: LWF)

Zwischen 1986 und 2016 gab es in Europa 36 Millionen Störungsflächen (Senf & Seidl 2020). Insgesamt wurde in diesem Zeitraum eine Fläche von 39 Millionen Hektar gestört, was 17 % der europäischen Waldfläche entspricht. In Deutschland wurden 14 % der Waldfläche gestört, in Bayern ebenso.

Die mittlere Größe einer gestörten Fläche betrug in Europa 1,09 ha und 99 % aller gestörten Flächen waren kleiner als 10 ha. In Deutschland war die mittlere gestörte Fläche mit 0,73 ha deutlich kleiner als im europäischen Durchschnitt, in Bayern betrug der Wert sogar nur 0,63 ha.
Die im Schnitt größten Störungsflächen hatte Schweden aufzuweisen (1,73 ha), die kleinsten Öffnungen des Kronendaches gab es in der Schweiz (0,62 ha). Die größte identifizierte Störungsfläche liegt in Spanien, wo im Jahr 2012 ein Feuer mehr als 16.600 ha Wald verbrannte (Abbildung 4a).

Störungshäufigkeit …

Die durchschnittliche Störungshäufigkeit in Europa lag bei 0,52 Störungen pro km² und Jahr, wobei 99 % aller Werte unter 3,01 Störungen pro km² und Jahr lagen (Senf & Seidl 2020). Am häufigsten wurde das Kronendach in Europa in Portugal gestört (im Schnitt 1,69 Mal pro km² und Jahr), Moldawien weist dagegen die geringste Störungshäufigkeit auf (0,13 Störungen pro km² und Jahr). In Deutschland lag die Störungshäufigkeit knapp unter dem europäischen Durchschnitt (0,42 Störungen pro km² und Jahr), in Bayern betrug dieser Wert 0,69 (Abbildung 4b).

… und Störungsstärke

Die mittlere Störungsstärke in Europa betrug 0,77 und 50 % aller Störungsflächen hatten eine Störungsstärke von >0,83 (Senf & Seidl 2020). Diese Werte lassen auf eine Dominanz relativ starker Störungen in Europas Wäldern schließen, also Störungen, die das Kronendach weitgehend komplett öffnen. Die stärksten Störungen gab es dabei im Schnitt in Irland und Großbritannien, die schwächsten in Slowenien. In Deutschland lag die Störungsstärke mit 0,72 etwas unter dem europäischen Durchschnitt und auch für Bayern wurde mit 0,74 ein vergleichbarer Wert berechnet (Abbildung 4c).

Veränderungen über die Zeit

Drei Karten von Europa mit unterschiedlicher Färbung mit Rot und BlauZoombild vorhanden

Abb. 5: Jährliche Änderungen im europäischen Störungsregime zwischen 1986 und 2016 (Grafik: LWF)

Die Analyse der Satellitendaten dokumentiert gravierende Änderungen in Europas Störungsregime über die letzten drei Jahrzehnte. Dabei ist vor allem interessant, dass Änderungen in den einzelnen Komponenten des Störungsregimes zum Teil gegenläufig sind. Die Störungshäufigkeit stieg in weiten Teilen Europas deutlich an; auf 74 % der europäischen Waldfläche gab es eine Zunahme der Störungshäufigkeit (Senf & Seidl 2020).

Speziell betroffen von diesem Anstieg waren Mittel- und Osteuropa. Diese Zunahme ist wohl zu einem Großteil den ansteigenden natürlichen Störungen durch Wind und Borkenkäfer geschuldet, spiegelt aber auch die generelle Zunahme der Holznutzung in Europa wider. Dem gegenüber steht eine deutliche Abnahme der Störungsstärke in Europa.

Auf 88 % der Waldfläche sank die Störungsstärke in den letzten 30 Jahren, wobei auch hier Mittel- und Osteuropa die stärksten Trends verzeichneten. Dies kann als Indikator für eine gestiegene Pfleglichkeit in der Waldbewirtschaftung gewertet werden (Zunahme von strukturierten Beständen, in welchen Störungen nicht zu einem kompletten Verlust des Kronendaches führen).

Für die Größe der gestörten Fläche konnte kein eindeutiger Trend festgestellt werden. Zwar gibt es auf 65 % der europäischen Waldfläche eine Zunahme der mittleren gestörten Fläche, in Summe zeigt sich jedoch vor allem eine zunehmende Variabilität in der Größe von gestörten Flächen (Senf & Seidl 2020). Diese zunehmende Variabilität resultiert aus kleineren Eingriffsgrößen durch pfleglichere Waldwirtschaft bei gleichzeitiger Zunahme von großen natürlichen Störungen. Deutschland und Bayern weisen mit Gesamteuropa vergleichbare Trends in Störungsgröße, Störungshäufigkeit und Störungsstärke auf (Abbildung 5).
Das Buch zum Schwerpunkt

Das Buch zum Schwerpunkt

Buchcover mit viel Rot darin und Bild von WaldZoombild vorhanden

Abb. 7: Thomas Wohlgemuth, Anke Jentsch und Rupert Seidl: Störungsökologie. Haupt-Verlag (utb) 2019, 396 Seiten. 44,99 Euro. ISBN: 978-3-8252-5018-8

Die Störungsökologie erforscht Ökosysteme in der Veränderung und erschließt damit Einsichten, die sich gerade angesichts der Herausforderungen des Klimawandels als essentiell erweisen. Dieses Lehrbuch führt uns breit in seine Methoden und Kenntnisse ein.

Die Vorstellung eines Gleichgewichts oder, stärker noch, einer Harmonie in der Natur hatte lange Zeit Konjunktur, wobei sie sich zunehmend vom Bild eines statischen zu dem eines dynamischen Gleichgewichts entwickelte. Dazu gesellten sich in den letzten Jahrzehnten die Erkenntnisse darüber, wie auch augenscheinlich zerstörerische, disharmonische Naturereignisse – Störungen – im Lebenszyklus von Ökosystemen ihren Platz haben. Welchen Platz genau, damit beschäftigt sich die noch recht junge Fachrichtung der Störungsökologie.

Das vorliegende, umfassende Lehrbuch der Störungsökologie ist das bislang einzige im deutschen Sprachraum. Es versammelt in didaktisch aufbauender Gestaltung 17 Fachkapitel und zahlreiche ergänzende Beiträge zu Detailfragen von 31 Expertinnen und Experten aus der Schweiz, Österreich und Deutschland.

Der Einführung in die Grundlagen und Definitionen der Störungsökologie folgen die Charakterisierung der unterschiedlichen Störungsereignisse in den verschiedenen irdischen Vegetationszonen, die Darlegung der Konzepte und Methoden der Forschung und dann die vertiefte Beschäftigung mit den Erkenntnissen zu den einzelnen Störungen. Hier unterscheidet die Störungsökologie nach abiotischen Störungen (Waldbrände, Windfall oder Lawinen), biotischen (Insektenbefall, Krankheiten, Wildverbiss) und den anthropogenen Störungen etwa durch Forst- und Landwirtschaft oder den Klimawandel.

Dabei widmet es sich weniger deren Wertung als vorerst der Erläuterung ihrer Ursachen, Wechselwirkungen und Folgen, speziell auch in Bezug auf Ökosystemleistungen und Biodiversität. Die fundierten Empfehlungen und Schlüsse betreffs des effektiven Risikomanagements von Störungsereignissen schließen sich dem dann im Abschluss des Lehrwerks an – wobei, im allgemeinsten Rahmen, auf die stabilisierende Wirkung einer breiten Biodiversität deutlich verwiesen wird.

Bereits die Veröffentlichung des Buches in der utb-Verlagskooperation zeigt klar, dass es als ein eigentliches Lehrbuch auf ein Publikum von Studierenden zielt. Das bedeutet nun aber nicht, dass es damit dem interessierten Laien nicht mehr zugänglich wäre. Tatsächlich zeigt es sich – eine grundlegende Kenntnis des ökologischen Fachvokabulars vorausgesetzt – als sehr eingängig geschrieben und in seinen Beispielen und Erklärungen leicht nachvollziehbar. Dies bestärkt es mittels seiner großzügigen Bebilderung mit aussagekräftigen Fotos, Zeichnungen, Diagrammen und Karten, die ihre Bedeutung zwar nicht durchgehend, aber doch weit mehrheitlich auch dem untrainierten Auge erschließen.

Nicht zuletzt auch darin, dass die Störungsökologie betreffs der Anpassung an grundlegende ökologische Veränderungen und der effektiven Förderung von Biodiversität viele essentielle Kenntnisse und Werkzeuge bereithält, schließt dieses Lehrbuch eine Lücke. Es füllt diese in seinem umfassenden Informationsgehalt und seiner bemerkenswert verständlichen Sprache breit dienlich aus.

Sacha Rufer

www.umweltnetz-schweiz.ch

Zusammenfassung und Ausblick

MischwaldZoombild vorhanden

Abb. 6: Strukturreiche Wälder in Mitteleuropa verringern die Störungsstärke (Foto: R. Seidl)

Mit den hier vorgestellten Karten liegt nun zum ersten Mal eine quantitative Beschreibung der Störungsregimes des europäischen Waldes vor. Die Daten sind für weitere wissenschaftliche Untersuchungen frei verfügbar und können im Internet (s. Link unten) online eingesehen werden. Die Analysen dokumentieren zum einen große räumliche Unterschiede im europäischen Störungsregime, zeigen aber auch über den gesamten Kontinent hinweg konsistente Trends wie ein Ansteigen der Störungshäufigkeit auf.

Die Daten belegen darüber hinaus, dass die Störungsregimes in Europas Wäldern deutlich kleiner strukturiert und räumlich komplexer sind als zum Beispiel jene in Nordamerika. Generell unterstreicht die vorgestellte Arbeit den großen Wert von Fernerkundungsdaten für die Waldforschung. Gerade das Landsat-Programm, dessen Daten kostenlos vom United States Geological Survey zur Verfügung gestellt werden und mehrere Jahrzehnte abdecken, ist eine Datenquelle, die für Fragen der Walddynamik einen unschätzbaren Wert darstellt.

Die hier vorgestellten Daten und Analysen können nun zum Beispiel dafür verwendet werden, die in den Jahren 2018/2019 aufgetretenen Waldschäden in den Kontext der letzten 30 Jahre zu setzen. Darüber hinaus dienen sie als Grundlage dafür, zukünftige Veränderungen im Störungsregime in Europa zu identifizieren und in ihrer Stärke abzuschätzen.

Literatur

  • Jentsch, A.; Seidl, R.; Wohlgemuth, T. (2019): Störungen und Störungsregime. In: Wohlgemuth, T., Jentsch, A., Seidl, R. (Hrsg.). Störungsökologie. Haupt Verlag, Bern. S. 21–42
  • Kennedy, R.E.; Andréfouet, S.; Cohen, W.B.; Gómez, C.; Griffiths, P.; Hais, M.; Healy, S.P.; Helmer, E.H.; Hostert, P.; Lyons, M.B.; Meigs, G.W.; Pflugmacher, D.; Phinn, S.R.; Powell, S.L.; Scarth, P.; Sen, S.; Schroeder, T.A.; Schneider, A.; Sonnenschein, R.; Vogelmann, J.E.; Wulder, M.A.; Zhu, Z. (2014): Bringing an ecological view of change to Landsat-based remote sensing. Frontiers in Ecology and the Environment 12, S. 339–346
  • Seidl, R.; Schelhaas, M.J.; Rammer, W.; Verkerk, P.J. (2014): Increasing forest disturbances in Europe and their impact on carbon storage. Nature Climate Change 4, S. 806–810
  • Senf, C.; Seidl. R. (2020): Mapping the forest disturbance regimes of Europe. Nature Sustainability, www.nature.com/articles/s41893-020-00609-y; doi: 10.1038/s41893-020-00609-y

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