Gregor Aas
Die Fichte (Picea abies): Verwandtschaft, Morphologie und Ökologie – LWF Wissen 80

Die Gewöhnliche Fichte (Picea abies, Familie Pinaceae) ist eine in Nordeuropa und im nördlichen Osteuropa weit verbreitete Baumart der borealen Nadelwälder. Disjunkt davon kommt sie von Natur aus in Gebirgen Mittel-, Süd- und Südosteuropas vor.

Darüber hinaus wird sie auf großen Flächen forstlich angebaut und ist dadurch die häufigste Baumart Mitteleuropas. Vorgestellt werden einige in Mitteleuropa häufiger kultivierte fremdländische Picea-Arten und insbesondere die Morphologie, Ökologie und Reproduktionsbiologie von Picea abies.

Die Gattung Picea in Europa

Berglandschaft mit Grasland, Fichtengürtel und Berg im HintergrundZoombild vorhanden

Abb. 1: Picea mariana (Schwarz-Fichte, Black Spruce) im herbstlichen Alaska. (Foto: R. Zimmermann)

Die Fichten (Picea) sind mit rund 35 Arten nach Pinus (Kiefer) und Abies (Tanne) die artenreichste Gattung der Familie der Pinaceae (Kieferngewächse; Schmidt 1998). Picea-Arten prägen auf riesigen Flächen die borealen Nadelwälder der Nordhemisphäre (die »dunkle « Taiga, Abbildung 1) und die Nadelwaldstufe in den Gebirgen der temperaten und teilweise auch der meridionalen Zone.

Einziger bei uns einheimischer Vertreter der Gattung ist Picea abies (L.) H. KARST., die Gewöhnliche Fichte (engl. Norway Spruce). Sie ist forstwirtschaftlich die wichtigste Baumart Mitteleuropas, die über ihre natürlichen Vorkommen hinaus auf großer Fläche und oft auf für sie ungeeigneten Standorten angebaut ist. Ihr Anteil beträgt in Deutschland derzeit rund 26 % (BWI 2012), wobei sie in den letzten Jahren an Fläche verloren hat.
Benadelter TriebZoombild vorhanden

Abb. 2: Sitka-Fichte mit ihren sehr schmalen, stechend spitzigen und unterseits grauweißen Nadeln. (Foto: G. Aas)

Neben der heimischen hat die Sitka-Fichte (P. sitchensis, engl.: Sitka Spruce, Abbildung 2) in Europa größere forstliche Bedeutung. Sie ist im westlichen Nordamerika entlang der Küste von Alaska bis ins nordwestliche Kalifornien beheimatet, mit Baumhöhen bis zu 90 m die größte und wüchsigste aller Fichtenarten und nach der Douglasie (Pseudotsuga menziesii) die forstlich wichtigste nicht heimische Baumart in Europa (Nygaard und Øyen 2017).

Sitka-Fichten kommen von Natur aus in den temperaten Regenwäldern am Pazifik unter extrem regen- und vor allem nebelreichen, kühl-humiden Klimabedingungen vor. Im atlantischen West- und Nordeuropa, vornehmlich in küstennahen Gebieten Frankreichs, Belgiens und der Niederlande sowie auf den Britischen Inseln, in Dänemark, auf Island und in Norwegen ist sie mit einer Fläche von insgesamt etwa 1,3 Mio. Hektar die häufigste eingeführte Baumart (Nygaard und Øyen 2017). In weit geringerem Umfang gedeihen Sitka-Fichten auch in Deutschland, hauptsächlich küstennah oder in regenreichen Mittelgebirgslagen (Weller und Meiwes 2015). In Schleswig-Holstein und in Niedersachsen wächst P. sitchensis auf einer Fläche von jeweils rund 5.000 ha (3,1 % bzw. 0,5 % der Waldfläche, BWI 2012).
Nadelunterseite eines Fichtentriebs mit blühenden Zapfen am EndeZoombild vorhanden

Abb. 3: Picea omorika mit männlichen Blüten. (Foto: G. Aas)

Neben Picea sitchensis erlangte P. pungens (Stechoder Blau-Fichte, Blue Spruce) zumindest für kurze Zeit eine gewisse forstliche Relevanz in Mitteleuropa. Die in den Rocky Mountains beheimatete Bergwaldart wurde versuchsweise in den 1980er und 1990er Jahren für Aufforstungen auf Waldschadensflächen, insbesondere im Erzgebirge verwendet. Blau-Fichten, vor allem silbergrau bis blauweiß benadelte Sorten, sind bei uns beliebte Zierbäume.

Ebenfalls gartenbauliche Bedeutung haben darüber hinaus die schmalkronig wachsende P. omorika (Omorika- oder Serbische Fichte, Abbildung 3), die von Natur aus in einem extrem kleinen Areal auf dem Balkan vorkommt und P. orientalis, die Kaukasus- oder Orientalische Fichte, die in der nordöstlichen Türkei und im Kaukasus zusammen mit Fagus orientalis und Abies nordmanniana imposante Bergwälder bildet.

Morphologie

Verschneite FichtenZoombild vorhanden

Abb. 4: Gruppe von Picea abies nahe der Radspitze im tief verschneiten Frankenwald. (Foto: G. Aas)

Picea abies ist ein 30 bis 50 m (max. 60 m) hoher, immergrüner Baum (Abbildung 4). Kennzeichnend für die Kronenarchitektur ist eine bis ins Alter durchlaufende, gegenüber den Ästen klar dominierende Hauptachse (Stamm) und eine bis ins hohe Alter spitz kegelförmige Krone (habitueller Unterschied zur Weiß-Tanne!). Bedingt durch eine ausgeprägte, zeitlebens anhaltende apikale Kontrolle und Akrotonie ist im Normalfall der Gipfeltrieb der kräftigste und längste aller Jahrestriebe und der einzige aufrechte. Alle Seitenachsen wachsen dagegen waagrecht oder schräg abstehend (plagiotrop). Bei älteren Ästen richtet sich die Spitze oft bogenförmig auf. Unmittelbar unterhalb der Terminalknospe eines Jahrestriebes sitzen gehäuft Seitenknospen, die zu kräftigen Seitentrieben auswachsen. Dies führt zu der für Fichten (und Tannen) vor allem in der Jugendphase charakteristischen Wuchsform mit regelmäßig jahrgangsweise in Etagen angeordneten Astquirlen und dazwischen deutlich kürzeren Seitentrieben (Abbildung 6).

Das Längenwachstum der Fichte erfolgt gebunden, das heißt der neue Spross ist komplett in der Knospe angelegt (präformiert) und treibt im Mai aus, zunächst meist die Seitentriebe, danach der Gipfeltrieb. Die Streckung der anfangs oft abwärts gekrümmten Triebe zur vollen Länge ist nach etwa sechs Wochen abgeschlossen. Diesjährige Triebe bleiben unverzweigt. Nur bei jungen, vitalen Fichten unter guten Lichtverhältnissen kann der Maitrieb durch sogenanntes »freies Wachstum « weiter in die Länge wachsen und sich der Gipfeltrieb während seiner Streckung sylleptisch (vorgezogen) verzweigen.

Mit zunehmendem Alter bestimmen mehr und mehr sogenannte »Proventivtriebe« das Kronenbild (Abbildung 7). Dabei handelt es sich um den Austrieb schlafender Knospen älterer Äste (nie am Stamm!). Mit Hilfe dieser neuen Sprosse (Reiterationen) sind Fichten in der Lage, ihre Benadelung innerhalb der bestehenden Krone zu erneuern, um den Verlust von Nadeln durch altersbedingten Nadelfall oder durch Schädigungen (z. B. Krankheiten) zu kompensieren, aber auch, um durch eine Vergrößerung der Blattmasse flexibel auf veränderte Umweltbedingungen zu reagieren. Proventivtriebe stellen bei älteren Bäumen oft den Großteil (bis 90 %) der am Baum vorhandenen Nadeln (Bartels 1993).
Große, schlanke Fichte, mit wenig, schmaler BenadelungZoombild vorhanden

Abb. 5: Subalpiner Bestand von Fichten mit auffallend säulenartigen Kronen. (Foto: G. Aas)

Die Baumkrone von Picea abies ist trotz eines klar festgelegten Bauplans variabel und anpassungsfähig. Man unterscheidet verschiedene Kronenformen, die durch die Länge der Äste 1. Ordnung und die Ausrichtung ihrer Seitenzweige bestimmt sind (Priehäusser 1958).

»Kammfichten« haben relativ lange Äste mit schlaff herabhängenden Seitenzweigen (Abbildung 8), »Plattenfichten « hingegen eher kurze Äste und mehr oder weniger horizontal in einer Ebene stehende Zweige. Intermediär zwischen diesen beiden Formen steht der »Bürstentyp« mit abstehenden bis hängenden Zweigen. Plattenfichten mit besonders kurzen Ästen und schmalen, tief beasteten Kronen (Säulenformen, »Spitzfichten «) finden sich vor allem in höheren Gebirgslagen als Anpassung an hohe Schneelasten (Abbildung 5). Der Verlust des Gipfeltriebes (z. B. bei Wildverbiss oder Stammbrüchen) führt zur Aufhebung der apikalen Kontrolle und zum Aufrichten von Seitenästen (Reiterationen) und somit zu Zwieselbildungen oder kandelaberartiger Mehrstämmigkeit.

Die Blätter (Nadeln) der Fichte stehen einzeln und spiralig an Langtrieben. Typisch für alle Picea-Arten und ein gutes Unterscheidungsmerkmal zu anderen »tannenähnlichen « Koniferen-Gattungen wie Abies, Pseudotsuga und Tsuga ist der Ansatz der Nadeln an der Sprossachse (Abbildung 9). Sie sitzen bei Fichten stets auf einem rindenfarbenen, höcker- oder stielartigen Fortsatz, der fest mit der Rinde verwachsen ist. Nach dem Blattfall verbleiben diese »Nadelstielchen« an der Sprossachse, die dadurch raspelartig rau wird. Die Nadeln von P. abies sind im Querschnitt mehr oder weniger rhombisch mit Spaltöffnungen auf allen vier Seiten (äquifaziales, amphistomatisches Laubblatt) und deshalb ringsum etwa gleichfarbig (im Unterschied zu P. omorika und P. sitchensis, aber auch zu vielen Abies-Arten). Ihre Lebensdauer variiert je nach Wuchsbedingungen und Vitalität des Baums zwischen vier und zehn Jahren.
Junge Fichten

Abb. 6: Junge Fichte (Foto: G. Aas)

Austrieb von Knospen am Ast

Abb. 7: Schlafende Knospen (Foto: G. Aas)

Zweige einer Fichte, mit herunterhängenden Ästen

Abb. 8: Kammfichten (Foto: G. Aas)

Nadelunterseite eines Fichtentriebs

Abb. 9: Sprossabschnitt (Foto: G. Aas)

Verbreitung und Ökologie

Fichtenverbreitungsgebiet in EuropaZoombild vorhanden

Abb. 10: Natürliche Verbreitung von Picea abies (verändert nach EUFORGEN)

Picea abies ist eine hauptsächlich nordisch-kontinental verbreitete Art (Abbildung 10). In Skandinavien und im nördlichen Osteuropa bis nach Sibirien ist sie auf großen Flächen ein wichtiger Bestandteil borealer Nadelwälder. Östlich davon, in weiten Teilen Sibiriens bis nach Kamtschatka und in die Mongolei, wird sie von der ähnlichen Picea obovata LEDEB., der Sibirischen Fichte, abgelöst, die oft als Unterart der Gewöhnlichen Fichte angesehen wird (P. abies ssp. obovata [LEDEB.] HULTÉN). Beide Arten bastardieren bei sympatrischer Verbreitung miteinander (P. × fennica [REGEL] KOM.). Disjunkt von ihrem nordischen Areal ist P. abies präalpin in vielen Gebirgen Mittel-, Süd- und Südosteuropas verbreitet. In Mitteleuropa beschränken sich die natürlichen Vorkommen auf die hochmontane und subalpine Stufe der Alpen sowie auf die höheren Lagen im südlichen Jura und Schwarzwald, vom Bayerischen Wald bis zum Fichtelgebirge, Frankenwald und Thüringer Wald sowie im Erzgebirge, den Sudeten und im Harz. Die Grenzen der vertikalen Verbreitung liegen in den Nord- und Südalpen an der Baumgrenze bei etwa 2.200 m bzw. 2.300 m ü. NN, im Bayerischen Wald bei 1.400 m, im Erzgebirge bei etwa 1.200 m und im Harz bei 1.050 m (Zoller 1981).

Von Natur aus kommt die Halbschattbaumart Fichte bei uns in kühl-humiden Lagen über 800 m Meereshöhe auf frischen bis nassen, basenarmen bis -reichen, humosen bis modrig-torfigen, lockeren, steinig-sandigen Lehm- und Tonböden vor (Mayer 1992; Oberdorfer 1994). Vereinzelte Vorkommen in tieferen Lagen finden sich nur an Sonderstandorten wie in extremen Kaltluftlagen oder auf nährstoffarmen, staunassen Böden mit mächtigen Humusauflagen. Insbesondere auf nassen und dicht gelagerten Böden bildet die Fichte ein tellerartig flaches Wurzelsystem.

Über die Grenzen ihrer natürlichen Verbreitung hinaus ist die Fichte großflächig forstlich angebaut. In vielen westlichen und südlichen Bundesländern Deutschlands ist sie die häufigste Waldbaumart (Anteil an der Waldfläche: Deutschland 26 %, Bayern 42 %, Baden- Württemberg 34 %, Thüringen 38 %, Brandenburg 2 %; BWI 2012).

Reproduktion

Drei rosa-farbene FichtenzapfenZoombild vorhanden

Abb. 11: Drei weibliche Blütenstände, im Hintergrund männliche Einzelblüten. (Foto: G. Aas)

Die einhäusig verteilten Blüten der Fichte (Abbildung 11) erscheinen im Frühjahr an den vorjährigen Trieben, die männlichen einzeln in den Achseln von Nadeln (Abbildung 12), die weiblichen in zapfenartigen Blütenständen endständig an der Zweigspitze. Die Samenschuppen der weiblichen Einzelblüten sind grünlich bis purpurrot und schon zur Blüte länger als die kleinen, unscheinbaren Deckschuppen. Die Bestäubung erfolgt durch den Wind. Die weiblichen Blütenstände krümmen sich gleich nach der Bestäubung durch einseitiges Wachstum ihres kurzen Stiels nach unten, so dass die Zapfen am Zweig hängen (Abbildung 13).

Während ihrer Reife sind diese rot oder grün (rot vorwiegend im höheren Gebirge, grün oft in tieferen Lagen), zur Samenreife im Herbst des Blühjahres hellbraun. Die Samenschuppen sind fest mit der Zapfenspindel verwachsen, ihre Form variiert von abgerundet (obovata-Form, häufiger im Norden des Areals und in höheren Gebirgslagen) bis spatelförmig mit oft welliger, ausgerandeter Spitze (acuminata- Form, häufiger im Süden des Areals und eher in tieferen Lagen, Mayer 1992; Schmidt-Vogt 1977). Picea abies zeigt ein ausgeprägtes Mastverhalten, das heißt die Intensität der Blüte und die Menge produzierter Samen schwankt in Fichtenbeständen von Jahr zu Jahr erheblich. Die Ausbreitung der Samen erfolgt durch den Wind. Fichtensamen haben keine endogene Keimhemmung, keimen aber erst bei Temperaturen über 7 – 8 °C. Die Keimung erfolgt epigäisch mit 7 – 10 Keimblättern.

Vor allem an Standorten nahe der Baumgrenze kann sich die Fichte vegetativ durch Absenker vermehren, wobei sich tief am Baum ansetzende Äste bei Bodenkontakt bewurzeln und zu eigenständigen Individuen entwickeln. Auf diese Weise entstehen dichte klonale »Fichtenfamilien« (Abbildung 14), die zusammen mit aus Samen entstandenen Baumgruppen typisch sind für die Struktur von Fichtenbeständen an der Waldgrenze (Rottenstruktur).
Herunterhängende Fichtenblüte mit viel Blüttenpollen

Abb. 12: Männliche Blüten (Foto: G. Aas)

Fichtenzapfen

Abb. 13: Reifende Zapfen (Foto: G. Aas)

Fichtengruppe

Abb. 14: Fichtengruppe (Foto: G. Aas)

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