Gregor Aas
Die Fichte (Picea abies): Verwandtschaft, Morphologie und Ökologie – LWF Wissen 80
Die Gewöhnliche Fichte (Picea abies, Familie Pinaceae) ist eine in Nordeuropa und im nördlichen Osteuropa weit verbreitete Baumart der borealen Nadelwälder. Disjunkt davon kommt sie von Natur aus in Gebirgen Mittel-, Süd- und Südosteuropas vor.
Darüber hinaus wird sie auf großen Flächen forstlich angebaut und ist dadurch die häufigste Baumart Mitteleuropas. Vorgestellt werden einige in Mitteleuropa häufiger kultivierte fremdländische Picea-Arten und insbesondere die Morphologie, Ökologie und Reproduktionsbiologie von Picea abies.
Die Gattung Picea in Europa
Abb. 1: Picea mariana (Schwarz-Fichte, Black Spruce) im herbstlichen Alaska. (Foto: R. Zimmermann)
Einziger bei uns einheimischer Vertreter der Gattung ist Picea abies (L.) H. KARST., die Gewöhnliche Fichte (engl. Norway Spruce). Sie ist forstwirtschaftlich die wichtigste Baumart Mitteleuropas, die über ihre natürlichen Vorkommen hinaus auf großer Fläche und oft auf für sie ungeeigneten Standorten angebaut ist. Ihr Anteil beträgt in Deutschland derzeit rund 26 % (BWI 2012), wobei sie in den letzten Jahren an Fläche verloren hat.
Abb. 2: Sitka-Fichte mit ihren sehr schmalen, stechend spitzigen und unterseits grauweißen Nadeln. (Foto: G. Aas)
Sitka-Fichten kommen von Natur aus in den temperaten Regenwäldern am Pazifik unter extrem regen- und vor allem nebelreichen, kühl-humiden Klimabedingungen vor. Im atlantischen West- und Nordeuropa, vornehmlich in küstennahen Gebieten Frankreichs, Belgiens und der Niederlande sowie auf den Britischen Inseln, in Dänemark, auf Island und in Norwegen ist sie mit einer Fläche von insgesamt etwa 1,3 Mio. Hektar die häufigste eingeführte Baumart (Nygaard und Øyen 2017). In weit geringerem Umfang gedeihen Sitka-Fichten auch in Deutschland, hauptsächlich küstennah oder in regenreichen Mittelgebirgslagen (Weller und Meiwes 2015). In Schleswig-Holstein und in Niedersachsen wächst P. sitchensis auf einer Fläche von jeweils rund 5.000 ha (3,1 % bzw. 0,5 % der Waldfläche, BWI 2012).
Abb. 3: Picea omorika mit männlichen Blüten. (Foto: G. Aas)
Ebenfalls gartenbauliche Bedeutung haben darüber hinaus die schmalkronig wachsende P. omorika (Omorika- oder Serbische Fichte, Abbildung 3), die von Natur aus in einem extrem kleinen Areal auf dem Balkan vorkommt und P. orientalis, die Kaukasus- oder Orientalische Fichte, die in der nordöstlichen Türkei und im Kaukasus zusammen mit Fagus orientalis und Abies nordmanniana imposante Bergwälder bildet.
Morphologie
Abb. 4: Gruppe von Picea abies nahe der Radspitze im tief verschneiten Frankenwald. (Foto: G. Aas)
Das Längenwachstum der Fichte erfolgt gebunden, das heißt der neue Spross ist komplett in der Knospe angelegt (präformiert) und treibt im Mai aus, zunächst meist die Seitentriebe, danach der Gipfeltrieb. Die Streckung der anfangs oft abwärts gekrümmten Triebe zur vollen Länge ist nach etwa sechs Wochen abgeschlossen. Diesjährige Triebe bleiben unverzweigt. Nur bei jungen, vitalen Fichten unter guten Lichtverhältnissen kann der Maitrieb durch sogenanntes »freies Wachstum « weiter in die Länge wachsen und sich der Gipfeltrieb während seiner Streckung sylleptisch (vorgezogen) verzweigen.
Mit zunehmendem Alter bestimmen mehr und mehr sogenannte »Proventivtriebe« das Kronenbild (Abbildung 7). Dabei handelt es sich um den Austrieb schlafender Knospen älterer Äste (nie am Stamm!). Mit Hilfe dieser neuen Sprosse (Reiterationen) sind Fichten in der Lage, ihre Benadelung innerhalb der bestehenden Krone zu erneuern, um den Verlust von Nadeln durch altersbedingten Nadelfall oder durch Schädigungen (z. B. Krankheiten) zu kompensieren, aber auch, um durch eine Vergrößerung der Blattmasse flexibel auf veränderte Umweltbedingungen zu reagieren. Proventivtriebe stellen bei älteren Bäumen oft den Großteil (bis 90 %) der am Baum vorhandenen Nadeln (Bartels 1993).
Abb. 5: Subalpiner Bestand von Fichten mit auffallend säulenartigen Kronen. (Foto: G. Aas)
»Kammfichten« haben relativ lange Äste mit schlaff herabhängenden Seitenzweigen (Abbildung 8), »Plattenfichten « hingegen eher kurze Äste und mehr oder weniger horizontal in einer Ebene stehende Zweige. Intermediär zwischen diesen beiden Formen steht der »Bürstentyp« mit abstehenden bis hängenden Zweigen. Plattenfichten mit besonders kurzen Ästen und schmalen, tief beasteten Kronen (Säulenformen, »Spitzfichten «) finden sich vor allem in höheren Gebirgslagen als Anpassung an hohe Schneelasten (Abbildung 5). Der Verlust des Gipfeltriebes (z. B. bei Wildverbiss oder Stammbrüchen) führt zur Aufhebung der apikalen Kontrolle und zum Aufrichten von Seitenästen (Reiterationen) und somit zu Zwieselbildungen oder kandelaberartiger Mehrstämmigkeit.
Die Blätter (Nadeln) der Fichte stehen einzeln und spiralig an Langtrieben. Typisch für alle Picea-Arten und ein gutes Unterscheidungsmerkmal zu anderen »tannenähnlichen « Koniferen-Gattungen wie Abies, Pseudotsuga und Tsuga ist der Ansatz der Nadeln an der Sprossachse (Abbildung 9). Sie sitzen bei Fichten stets auf einem rindenfarbenen, höcker- oder stielartigen Fortsatz, der fest mit der Rinde verwachsen ist. Nach dem Blattfall verbleiben diese »Nadelstielchen« an der Sprossachse, die dadurch raspelartig rau wird. Die Nadeln von P. abies sind im Querschnitt mehr oder weniger rhombisch mit Spaltöffnungen auf allen vier Seiten (äquifaziales, amphistomatisches Laubblatt) und deshalb ringsum etwa gleichfarbig (im Unterschied zu P. omorika und P. sitchensis, aber auch zu vielen Abies-Arten). Ihre Lebensdauer variiert je nach Wuchsbedingungen und Vitalität des Baums zwischen vier und zehn Jahren.
Verbreitung und Ökologie
Abb. 10: Natürliche Verbreitung von Picea abies (verändert nach EUFORGEN)
Von Natur aus kommt die Halbschattbaumart Fichte bei uns in kühl-humiden Lagen über 800 m Meereshöhe auf frischen bis nassen, basenarmen bis -reichen, humosen bis modrig-torfigen, lockeren, steinig-sandigen Lehm- und Tonböden vor (Mayer 1992; Oberdorfer 1994). Vereinzelte Vorkommen in tieferen Lagen finden sich nur an Sonderstandorten wie in extremen Kaltluftlagen oder auf nährstoffarmen, staunassen Böden mit mächtigen Humusauflagen. Insbesondere auf nassen und dicht gelagerten Böden bildet die Fichte ein tellerartig flaches Wurzelsystem.
Über die Grenzen ihrer natürlichen Verbreitung hinaus ist die Fichte großflächig forstlich angebaut. In vielen westlichen und südlichen Bundesländern Deutschlands ist sie die häufigste Waldbaumart (Anteil an der Waldfläche: Deutschland 26 %, Bayern 42 %, Baden- Württemberg 34 %, Thüringen 38 %, Brandenburg 2 %; BWI 2012).
Reproduktion
Abb. 11: Drei weibliche Blütenstände, im Hintergrund männliche Einzelblüten. (Foto: G. Aas)
Während ihrer Reife sind diese rot oder grün (rot vorwiegend im höheren Gebirge, grün oft in tieferen Lagen), zur Samenreife im Herbst des Blühjahres hellbraun. Die Samenschuppen sind fest mit der Zapfenspindel verwachsen, ihre Form variiert von abgerundet (obovata-Form, häufiger im Norden des Areals und in höheren Gebirgslagen) bis spatelförmig mit oft welliger, ausgerandeter Spitze (acuminata- Form, häufiger im Süden des Areals und eher in tieferen Lagen, Mayer 1992; Schmidt-Vogt 1977). Picea abies zeigt ein ausgeprägtes Mastverhalten, das heißt die Intensität der Blüte und die Menge produzierter Samen schwankt in Fichtenbeständen von Jahr zu Jahr erheblich. Die Ausbreitung der Samen erfolgt durch den Wind. Fichtensamen haben keine endogene Keimhemmung, keimen aber erst bei Temperaturen über 7 – 8 °C. Die Keimung erfolgt epigäisch mit 7 – 10 Keimblättern.
Vor allem an Standorten nahe der Baumgrenze kann sich die Fichte vegetativ durch Absenker vermehren, wobei sich tief am Baum ansetzende Äste bei Bodenkontakt bewurzeln und zu eigenständigen Individuen entwickeln. Auf diese Weise entstehen dichte klonale »Fichtenfamilien« (Abbildung 14), die zusammen mit aus Samen entstandenen Baumgruppen typisch sind für die Struktur von Fichtenbeständen an der Waldgrenze (Rottenstruktur).